Die Zeit des Ruhestandes ist bei fast allen Menschen auch die Zeit der Rückschau auf das verstrichene Leben.
Wir lassen das Leben gedanklich in uns vorbeigleiten.
Und wir bewerten bestimmte Entscheidungen, Ausrichtungen und Lebenskonzepte.
Und wir ziehen Schlüsse – und stellen manchmal fest, dass die eingeschlagenen Wege sich als vermeintlich falsch erwiesen …

Ich für meinen Teil halte an folgender Überzeugung fest: Wir treffen immer die beste Entscheidung, die uns im gegebenen Augenblick unter den gegebenen Umständen möglich ist! Das war früher so und wird auch zukünftig so sein. Dieser Glaubenssatz beruht auf zwei Grundannahmen: Jedes Verhalten war oder ist in irgendeinem Kontext nützlich und folgt einer – manchmal auch verdeckten – positiven Absicht. Und es resultiert aus den vorrangig positiven persönlichen Erfahrungen, die wir im Leben bisher gemacht haben.


Dennoch hadern wir oftmals über unsere früheren Entscheidungen, ungeachtet dessen, dass wir an der Vergangenheit nichts mehr ändern können und ein Lebensweg B, C oder D nun mal nicht existiert. Aus unserer heutigen Sicht erscheint manch umgesetzter Lebensentschluss als fatal, absurd, schicksalhaft oder einfach nur ungerecht.


Um das Dilemma zwischen der Unveränderlichkeit der Vergangenheit und der Verzagtheit über unser vermeintliches Fehlhandeln zu lösen, sollte man den Begriff der falschen Entscheidung neu sortieren. Die Katalogisierung in ausschließlich „falsch“ wird nach meinem Empfinden der Gesamtrückschau auf ein Leben nicht gerecht. Ich schlage vor, zwischen richtigen, sowohl falschen als auch richtigen, falsch positiven und falsch negativen Entscheidungen zu differenzieren.


Richtige Entscheidungen gibt es nach Maja Storch, einer Psychoanalytikerin und Mitentwicklerin des „Zürcher Ressourcenmodells“ (ein Selbstmanagement-Training) strenggenommen nicht. Es gibt nur „Entscheidungsprozesse, die klug getroffen wurden“. Denn im Moment der Entscheidung kann man die zukünftigen Entwicklungen nie mit Sicherheit voraussehen. Als richtig empfinden die meisten von uns die Entscheidungen, bei denen sich die erwartete Idealvorstellung vom Leben gar nicht oder nur unwesentlich vom tatsächlichen Geschehen unterscheidet.

Die „Sowohl-als-auch-Entscheidungen“, die sowohl falschen als auch richtigen Entschlüsse sind diejenigen, die uns im Zick-Zack-Kurs durchs Leben manövriert haben: Auf dem Weg zum gesuchten Lebensstil, unseren Leitbildern und Zielen drehten wir eine oder mehrere Ehrenrunden, ehe sich die Wirklichkeit mit dem erwünschten Ideal halbwegs in Resonanz befand. Versuch und Irrtum waren die Antreiber. Mit den dahinter liegenden Verhaltensweisen und Handlungen lernten wir das Leben mit all seinen wertvollen und vielfältigen Facetten kennen und verstehen – und gelangten so zum größten Erkenntniszugewinn.

Zu den falsch positiven Entscheidungen rechne ich die, die wir unsicher und unvorbereitet, zaghaft und ängstlich, ohne Abgleich zwischen Herz und Verstand getroffen haben – oder auch treffen mussten. An denen wir gezweifelt haben und bei denen wir hin- und hergerissen waren. Die wir oft in großer Zeitnot und unter enormem inneren oder äußeren Druck gefällt haben. Doch die unserem Leben trotz mancher Vorbehalte und Befürchtungen, Sorgen und Schmerzen dann eine angenehme, sinnvolle und gedeihliche, manchmal auch abenteuerlich spannende oder unerwartet erfreuliche Wende und Zukunft beschert haben. Die unser Leben bereichert und verschönt haben. Über die wir gern mit Freunden und Partnern sprechen – und die wir ausgiebig in der Retrospektive unseres Lebens würdigen und feiern sollten.

Unter die falsch negativen Entscheidungen fallen jene, die wir ausdauernd geprüft, immer wieder überdacht und modellhaft getestet haben. Die sich trotz mehrfacher Testschleifen und Konsultationen als suboptimal erwiesen. Die wir womöglich immer wieder auf die lange Bank schoben und reifen lassen wollten. Die wir nach quälend langen inneren Dialogen dann endlich umsetzten. Oder es mussten. Und die sich trotz bester Wissens- und Gewissensprüfung als weniger belastbar und umsetzungszäher erwiesen. Die uns Prüfungen auferlegten und uns an unsere Grenzen trieben. Die aber gerade deshalb auch wichtiger, integrierter Bestandteil unseres Leben sind. Mit denen wir im Rückblick wohlwollend und rücksichtsvoll umgehen sollten – denn sie waren eine Lernchance, ein Erfahrungsbonus und eine Gelegenheit, auch die negativen Gefühle austesten zu können, für die wir auf diese Welt gekommen sind.

Wie sagte bereits Meister Rumi, der alte persische Gelehrte und Dichter des Mittelalters: „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“

Mein Fazit: Alle unsere Entscheidungen im Leben haben wir mit dem Wissen und den Erfahrungen der damaligen Zeit gefällt. Sie waren im gegebenen Moment und vor dem damaligem Hintergrund immer optimal, kausal korrekt und folgerichtig. Es gab keine anderen, keine „besseren“ Alternativen. Im Rückblick bleibt uns die Wahl, die zurückgelegten Lebensabschnitte als wertlos verstrichene Zeit zu betrachten – oder aber als Phasen der persönlichen Reifung zu verstehen, anzunehmen und zu würdigen.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!

Wolfgang Schiele

(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Best ager

© Wolfgang Schiele 2023 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de