Foto: Wolfgang Schiele

Einer meiner früheren Vorgesetzten sagte einmal, dass ihm ein kurzes, aber turbulentes Leben lieber sei als ein langes, das unaufgeregt verläuft. Dieser Satz hatte sich in meinen 40er Lebensjahren fest ins Gehirn eingebrannt. Vor einiger Zeit wurde ich durch die Todesanzeige, die ihm gewidmet war, in der Zeitung aufmerksam. Eigentlich bin ich nicht der Mensch, der die Zeitungen auf Inserate dieser Art durchforstet, und schon gar nicht systematisch, Auch habe ich schon seit vielen Jahren unser Lokalblatt wegen seiner spießbürgerlichen Kleinteiligkeit abbestellt. Und doch fiel es mir wie zufällig in die Hände und genauso unabsichtlich schlug ich genau die Seite auf, auf der die Anzeige gedruckt war. Er wurde 72 Jahre alt.

Und ich weiß, dass vor allem sein Liebesleben amüsant, vielfältig und sprunghaft war. Denn wir waren auch persönlich sehr eng befreundet. Nun bin ich fast in demselben Alter, mit dem er diese Welt verließ. Was mich vor einigen Tagen fast automatisch veranlasste, selbst in die Rückschau zu gehen und die verstrichenen Jahrzehnte nach Ereignissen und Verläufen zu durchforsten. Und am Ende zu einem vorläufigen Lebensfazit zu gelangen: ob es er eher lebhaft oder doch nüchtern verlief.

Die Antwort fällt mir schwer. Und ich denke jetzt auch, dass eine solche Art der Zuordnung – in leidenschaftlich oder unauffällig – keine wahrhaftige und ausgewogene Retrospektive ergibt. Ein Rückblick sollte immer (selbst-)wohlwollend und versöhnlich sein. Denn wir hatten (und haben) nur dieses eine Leben und wenn ich versuche, es allzu kritisch und vielleicht selbstzerstörerisch zu analysieren, dann hieße das nichts anderes, als es für sinnlos und absurd zu halten. Wir blenden gern die uns stärkenden Ereignisse aus und geben den negativen Episoden zu viel Raum.

Foto: Wolfgang Schiele

Nicht an den vermeintlichen Defiziten und „Fehlleistungen“ sollten wir uns aber reiben, sondern in die in jedem von uns vorhandene Fülle und den Überfluss des verstrichenen Lebens eintauchen. Weg von den menschlichen Mängeln und hin zur positiven Vielfalt unseres Daseins. So wie es die Positive Psychologie versteht: Dort ansetzen, wo wir in uns selbst Stärkung finden und die Dinge würdigen, die unser Leben lebenswerter gemacht haben und es noch tun. Und nicht vorrangig an den vermeintlichen Leiden herumlaborieren und in sich selbst wegen der „Versäumnisse“ kasteien.

Ich lese gerade das wunderbare Buch von Elke Heidenreich: „Altern“. Sie schafft es, mit ihren 80 Jahren trotz vieler Erniedrigungen, Verluste und Enttäuschungen eine kraftvolle, positive und gütige Rückschau auf ihr Leben vorzunehmen. Die Leuchttürme ihres Daseins überstrahlen die vielen Tiefschläge um einiges. Das Leben bedarf in meinen Augen keiner erzwungenen maschinellen Verlängerung. Auch ein relativ kurzes Leben hat bei genauerem Hinschauen reichlich Höhepunkte zu bieten – und die sollten wir sehen und gebührend feiern …

Vielen Dank für Ihr/Euer Interesse und beste Grüße

Wolfgang Schiele

Freiwillig emeritierter (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für angehende Senioren

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