
Fototelling ist eine in der Therapie und im Coaching angewandte Methode, um Menschen durch die Arbeit mit Bildern zu persönlicher Reflexion anzuregen und damit vorhandene, aber unbewusste und damit ungenutzte eigene Ressourcen für die Lebensgestaltung zu (re-)aktivieren. Das kann einmal durch die Betrachtung und Interpretation eigener Fotografien – und damit aus dem unmittelbaren biografischen Umfeld des Betroffenen – geschehen. Zum anderen kann der Therapeut oder Coach dem Klienten eine freie Bildauswahl anbieten, aus denen dieser sein Problem-, Lebens- oder auch Sinnthema ableiten, reflektieren oder sogar verändern kann.
Eine weitere Möglichkeit besteht darin, ihn selbst zu aktiver Fotografie zu animieren und damit an den eigentlichen Prozess der Entstehung und Interpretation von Motiven und Bildern heranzuführen. All diese Verfahrensweisen sollen die Selbstreflexionskompetenzen des Klienten verbessern, ihn für einen erweiterten Blick auf die Welt sensibilisieren und zu einer neuen Sichtweise auf die fotografierten Subjekte und Objekte anregen. Die Arbeit mit Bildern schult die visuelle Wahrnehmung, führt zu überraschenden Erkenntnisgewinnen und kann innere Veränderungsprozesse im Coachee oder Klienten auslösen. Bilder ermöglichen einen Perspektivwechsel und eine Sichterweiterung – sie eröffnen neue Betrachtungsweisen und ergänzen in Alltag und Beruf unsere sprachliche Welt.
Insbesondere durch die aktive Beschäftigung mit den uns umgebenden Motiven und die Arbeit hinter der Kamera kann der Betroffene Stress abbauen, persönliche Probleme auf neuen Wegen lösen und ggf. auch Krisen besser verarbeiten. Damit leistet Fototelling auch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die Stärkung der psychischen Gesundheit und der eigenen Resilienz.
Ich möchte noch einen weiteren Schritt gehen und führe an dieser Stelle den Begriff des Fotonarrativs ein. Im sozialwissenschaftlichen Umgang versteht man unter einem Narrativ eine sinnstiftende Erzählung. Sie hatte vor Tausenden von Jahren, als es noch keine schriftlichen Überlieferungsmöglichkeit gab, die Aufgabe, existenzielles Wissen vorwiegend mündlich an nachfolgende Generationen zu überliefen. Der visuelle Anteil der Generativität – der Weitergabe von Wissen und Erfahrungen – wurde über die Felszeichnungen kommuniziert. Sie waren quasi die frühen Vorläufer des Fotonarratives.
Regelmäßig verbinden wir mit einer Geschichte auch das Auftauchen oder Vorhandensein verschiedener Bilder, die gemeinsam eine Story „erzählen“. Ich denke jedoch, dass schon ein einziges Foto allein in der Lage ist, eine Geschichte zu erzählen. Das umso mehr, wenn wir entweder den biografischen Kontext aus eigener Erfahrung heraus kennen (vor allem bei eigenen Fotografien) oder wenn wir in Unkenntnis des Geschehenen (also bei fremden Bildern) unserer kognitiven und emotionalen Fantasie freien Lauf lassen.
Ein Fotonarrativ ist für mich eine visuelle, sinnstiftende und emotionale Projektion der (zurückliegenden) Wirklichkeit. So, wie das sprachliche Narrativ gesellschaftliche Phänomene und Entwicklungen, historische Vorgänge sowie Abläufe, Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten in der Natur beschreibt, erklärt oder rechtfertigt, können die Fotonarrative uns vorrangig emotional helfen, Werte zu kommunizieren, Rollen zu erkennen und Symbole verständlich machen. Sie tragen das Potenzial einer persönlichen Neuorientierung in sich – unabhängig von ihrer ethischen, gesellschaftlichen oder religiösen Ausrichtung. Es sind visuell verallgemeinernde Metaphern, die unbewusste Bedeutungszusammenhänge aufdecken, sie assoziieren und neue Bindungen herstellen. Sie sprengen die Enge des rein formellen Bildes und heben dessen ursprünglichen Gehalt (und manchmal auch Sinn) auf eine höhere Abstraktionsebene. (Foto-)Narrative machen Dinge begreiflicher, anschaulicher und übertragbarer, vor allem dann, wenn unserer Sprache die präzisen Worte und Ausdrücke für Sinneswahrnehmungen, Gemütsbewegungen und Emotionen fehlen.

Vielen Dank für Ihr/Euer Interesse und beste Grüße
Wolfgang Schiele
Freiwillig emeritierter (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für angehende Senioren
© Wolfgang Schiele, 2024 | Coaching50plus | info@coachingfiftyplus.de

21. Juni 2024 at 8:31
???
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20. Juni 2024 at 17:30
Danke. Ein schönes menschengemachtes Kunstwerk! Eine Allegorie wofür?
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20. Juni 2024 at 16:22
Ein Park in Südengland – und der Salamander ist menschengemacht. Vielleicht soll er auch als Allegorie dienen …
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20. Juni 2024 at 15:23
Den Salamander am Baum habe ich auch mit Erstaunen und Bewundern bemerkt, kann mir dies Phänomen nicht erklären.
Ist es ein menschengemachtes oder ein natürliches Kunstwerk?
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20. Juni 2024 at 9:57
Eine großartige narrative Aufbereitung meiner beiden Fotos – vielen lieben und herzlichen Dank dafür, liebe Gisela Benseler!
PS: Und vielleicht hat ja der Salamander am Baum auch noch einen Platz in der dahinterliegenden Geschichte …
Eine geschichtenträchtrige Restwoche und beste Grüße
Wolfgang Schiele
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20. Juni 2024 at 9:06
Das 1. Foto stellt uns vor eine Situation, die mehrdeutig ist:
Ein Baumtor läd dazu ein, hindurchzuschreiten. Doch so einfach wird es uns nicht gemacht, weil viele Bäumchen den Weg teilweise versperren…
Das 2. Foto erzählt eine Geschichte: Dazu gehört das Paar auf der Bank, die sich die Hände reichen.
Dies „Händereichen“ wiederholt sich in den grünen Blättern der Bäume, wodurch die Vereinzelung überwunden und ein Zusammenwirken möglich wird.
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