
In vielen Fotobüchern, Beiträgen und Kommentaren liest man, dass der Mensch seine Fotomotive nach bestimmten Kriterien gestaltet: z. B. nach der „9-Feld-Methode“, nach dem Prinzip des „Goldenen Schnitts“, der Methode der „führenden Linien“ oder nach Schema des „negativen Raumes“.
Ich finde, dass diese Prinzipen gar nicht durch den Menschen entwickelt oder hergeleitet wurden. Diese Gestaltungsprinzipien hat die Natur absichtslos, sinn- und zweckfrei selbst kreiert und bietet sie uns nun unbedarft an. Unser Anteil besteht im Entdecken, Interpretieren und Verzerren der natürlichen Muster, Verbindungen und Assoziationen, die wir vorfinden. Erst im Nachhinein geben wir der vermeintlich entdeckten Ästhetik einen Namen – siehe oben. Und meinen, wir wären der Schöpfer der stilistischen Erkenntnis.

Es ist wie bei einem Bildhauer, der versucht, einen groben Stein in eine bestimmte Figur zu verwandeln. In Wirklichkeit tut er Folgendes: Er befreit durch sein künstlerisches Tun nur die bereits fertige Figur, das Objekt oder das Symbol, das im Material steckt, von überflüssigem Gestein. Das Motiv ist längst im Inneren vorhanden und wartet auf seine Befreiung, seine Selbstwerdung, seine Offenbarung.

Nicht immer gelingt es uns, das offenkundig harmonische Zusammenspiel unserer Umgebung in den fotografischen Blick zu bekommen. Im Grunde ist es so, dass wir eine miserable Erfolgsquote haben und das „ideale Foto“ eher selten entsteht. Die Natur offenbart ihre interne Ästhetik nicht auf den ersten Blick – sie fordert uns arg- und ahnungslos heraus, ihre Eleganz und Kreativität zu ergründen. Das geht fast immer nur dann, wenn wir hineindringen in das komplexe Zusammenspiel der unverfälschten Komponenten der Schöpfung. Und funktioniert beispielsweise durch einen geschickten Positionswechsel, eine veränderte innere Haltung oder eine neue assoziative Verknüpfung.

Fotografische Gestaltungsprinzipien folgen den „Intentionen“ der Natur, nicht unseren internen Denkprozessen. Denn die Natur allein platziert die Objekte und Gegenstände, verleiht ihnen die Proportionen, baut Beziehungen auf und setzt die Dinge unserer Welt in ein bestimmtes Verhältnis. Wir verarbeiten lediglich unsere sinnliche Wahrnehmung und geben ihr dann einen Namen – sofern unser Wortschatz das hergibt. Aber das Konzept, den Bauplan und den Bezug zur Welt gibt immer die Natur vor.

Vielen Dank für Ihr/Euer Interesse und beste Grüße
Wolfgang Schiele
Freiwillig emeritierter (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für angehende Senioren
© Wolfgang Schiele, 2024 | Coaching50plus | info@coachingfiftyplus.de

31. Juli 2024 at 19:29
Aus diesen Worten und den ausdrucksstarken Fotos spricht viel Erfahrung und Weisheit, die ja bekanntlich nicht vom Himmel fällt.🩵🐞
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