
„Man lebt zweimal: das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung.“(Honoré de Balzac)
Wie recht er hat, der Zitatgeber! Vor allem deshalb, weil man das erste Mal viel zu wenig Zeit hatte, sich in das Motiv hineinzudenken und sich intensiv mit ihm auseinanderzusetzen. Wenn man viel auf betreuten Reisen unterwegs ist, fehlt die Zeit für die Hingabe zum, die Auseinandersetzung mit und die Lust am Motiv. Vieles, wenn nicht sogar alles reduziert sich auf die technischen Bedingungen, die Positionswahl, das Licht. Eigener Sinnesgenuss am Subjekt oder Objekt tritt nur für einen kleinen Moment ein – dann zieht man schon weiter. Das Leben und Arbeiten in der fotografischen Wirklichkeit kann schon rau und ruppig sein.
Doch wenn man das fertige Bild in Ruhe betrachten kann, dann gesellen sich zum kurzem, aus der Erinnerung aufsteigenden Emotion der Vergangenheit alle weiteren Gefühle: das Gehirn beginnt mit der nachträglichen Interpretation des Fotografierten, mit der Analyse des Bildes und seinen ästhetischen Wirkungen. Das Basisgefühl von damals während des Auslösens wird angereichert mit neuen Aspekten der Bildkomposition. Plötzlich erkennt man weitere Wirkregeln, die dem Bild in seiner Interpretation guttun. Oder eben auch nicht. Dann verwirft man es vielleicht …

Ganz intensiv gestaltet sich der Prozess einer „erinnerten früheren Wirklichkeit“ bei der Zusammenstellung eines Fotobuches. In der Regel sind für dessen Umsetzung viele einzelne Bearbeitungsschritte erforderlich, will man nicht nur einen 0-8-15-Bildband fabrizieren. Konkret bedeutet das eine gezielte fotografische Auswahl zu treffen, denn meist hat man viel zu viele Bilder zur Verfügung. Also geht es um persönlichen Geschmack und um Qualität. Die visuelle Prüfung gerät ganz unvermittelt zur tiefen inneren Verbundenheit mit dem Motiv – man verschmilzt mit allen Sinnen mit der Aufnahme und ist sowohl am Ort des vergangenen Geschehens als auch in Zeit zurückversetzt, in der das Foto entstand.
Diese aus der Psychologie bekannte „Affektbrücke“, die das Bild schlägt, löst vergleichbare oder zumindest ähnliche Gefühle und auch einhergehende körperliche Empfindungen aus, die Vergangenheit und Gegenwart gleichsam miteinander verknüpfen. Diese assoziative Verbindung ist es auch, die in uns neue Denkprozesse, Interpretationsweisen und Haltungen zum fotografierten Objekt oder Subjekt erzeugt und damit Kreativität fördert. Vor allem aber vollzieht sich der Aufbau der Affektbrücke im Stillen: Wir sind nicht körperlich am Ort des früheren Geschehens, sondern frei von umgebender Hektik, mannigfaltigen Lärm und Treiben und anderen störenden Einflüssen, die uns seinerzeit den Genuss am Motiv verdorben haben. Indem wir faktisch das eigentliche Motiv aus seiner umtosten, unruhigen oder überzeichneten Welt herausgeschält haben, können wir uns nun dem uneingeschränkten Wohlgefallen, der visuellen Faszination und der ästhetischen Schönheit des Bildes hingeben. Und dann entsteht auch ein emotional ansprechendes Fotobuch …
Vielen Dank für Ihr/Euer Interesse und beste Grüße
Wolfgang Schiele
Freiwillig emeritierter (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für angehende Senioren
© Wolfgang Schiele, 2024 | Coaching50plus | info@coachingfiftyplus.de

7. August 2024 at 8:39
das Wort „Affektbrücke“ ist mir neu, danke dafür!
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