
Am Anfang stand die Frage, ob man sich allein aus dem Äußeren eines Menschen, seinem Aussehen, seiner Mimik und Gestik, seinem Habitus und seinen Affekten auch ein Bild über seinen Charakter machen kann. Oder anders gefragt: Kann man aus dem Foto eines Menschen, speziell aus dem Bild seines Gesichts, Rückschlüsse über seine inneren Eigenschaften, seine Persönlichkeit, sein Wesen ziehen?
In der Psychologie existiert ein Kommunikationsmodell, mit dem bewusste und unbewusste Charaktereigenschaften gegenübergestellt werden können. Es gleicht einem Fenster mit vier verschiedenen Glasscheiben, durch die man hindurchschauen kann, um zu erkennen, was andere über uns wissen (oder nicht) und was wir von uns selbst wissen (oder auch nicht). Das Ergebnis beschreibt den Grad des bewussten und unbewussten Selbst; oder anders gesagt: die Summe der Selbstwahrnehmung durch mich und die Fremdwahrnehmung durch Dritte. Zuzüglich eines unzugänglichen Anteils …
Das Modell heißt „Johari-Fenster„ und der Name ist in Anlehnung an die beiden Entwickler Joseph Luft und Harry Ingham entstanden (siehe Grafik oben).
Im „grünen Fensterglas“ sehen ich und andere die öffentliche Person. Es ist das, was ich einerseits selbst über mich weiß und andererseits bereit bin, gegenüber der Öffentlichkeit preiszugeben. Ich bin nach Carl Gustav Jung die sog. „persona“, der von mir selbst genehmigte öffentliche Mensch, hier im Modell „Arena“ genannt. So will ich mich anderen darbieten, will im Leben vorankommen, geliebt und respektiert werden. Dieser Bereich ist im Vergleich zu den anderen drei folgenden relativ klein.
Daneben gibt es mir bekannte eigene Persönlichkeitsanteile, Verhaltensweisen und Eigenschaften, die ich gern – wie hinter einer Maske – verbergen will. Geheimnisse, die hinter einer „Fassade“ bewusst versteckt gehalten werden. Erst die Fassade macht die persona zur Person. Der Aufbau der Fassade geschieht wissentlich und ganz gezielt (und kann – nebenbei gesagt – viel Energie kosten). Die Facetten dieses Persönlichkeitsbereiches werden vielleicht von den anderen gemutmaßt, sie sind aber in der Regel nicht bekannt.
Der „Blinde Fleck“ bezeichnet einen Persönlichkeitsbereich, dessen Eigenschaften ein Außenstehender wahrnimmt, ohne dass sie mir selbst bewusst sind (obwohl sie doch von mir selbst stammen …).
Und dann ist da noch das Universum des Unbekannten, des Unterbewussten. Davon ist weder mir noch den anderen irgendetwas bekannt.
Für den Fotografen ist natürlicherweise die „Arena“ der Platz des bildnerischen Schaffens. Er formt in erster Linie das menschliche Motiv nach dem, was offensichtlich und ihm bekannt ist. Danach, was ihm offiziell mitgeteilt wurde und was er im Shooting gerade sieht.
Doch kann die Fotografie auch die unbekannten Bereiche einer fremden Persönlichkeit erkunden und verstehen? Sind wir als Lichtbildner mit unserer geschulten Wahrnehmung womöglich in der Lage, hinter die „Fassade“ unseres Gegenübers zu schauen und zumindest einige Geheimnisse seiner Person aufzudecken? Reichen unser Einfühlungsvermögen und unsere Empathie aus, individuelle Charakterzüge aus der bloßen Betrachtung eines fremden Gesichts und aus seinem Habitus herauszulesen?
Daran schließt sich eine weitere Frage an: Hilft uns die Fotografie vielleicht sogar bei der Erkundung des eigenen „Blinden Flecks“? Ist es denkbar, dass allein durch die Betrachtung eines Selfies unbekannte Eigenschaften meines Selbst zutage treten? Ist es möglich, einen Teil meines unbewussten Ichs zu entschlüsseln und auf die Bekanntheitsseite zu verschieben? Kann es sein, dass das, was andere bisher nur aus ihrer Fremdwahrnehmung kennen, mit Hilfe der Fotografie auch mir zur Selbsterkenntnis gereicht?
Vielleicht bedarf es bei der Bildbetrachtung eines Beobachters, der mir seine Fremdwahrnehmung mitteilt und mir die Augen für eigene unbewusste oder verschüttete Wesenszüge und Charaktereigenschaften öffnet.
Und nun ganz extrem und zugespitzt: Kann es sogar sein, dass ich durch ein Bild von mir selbst oder von anderen Zugang zu Unbewusstem bekomme? Das erkennen kann, was im Universum des Unbekannten schlummert …?

Leider ist die Beweislage dafür, dass wir unbekannte Eigenschaften und Wesensmerkmale aus Bildern auslesen können, recht schwach. Wissenschaftliche Belege dafür sind wohl kaum zu finden. So wird es kaum gelingen, jemanden an Hand eines Fotos als Verbrecher oder braven Bürger zu identifizieren.
Und dennoch: Das Wissen um die verschiedenen „Glasscheiben“ des „Johari-Fensters“ birgt Vorteile im Umgang z. B. mit einem Fotomodel. Man kann damit gut abwägen, wie man kommunizieren möchte und über welche Inhalte man sich austauschen kann, damit es nicht zu Grenzüberschreitungen und seelischen Verletzungen kommt. Vorsicht ist geboten bei Gerüchten und unbewiesenen Behauptungen. Die bloße Vermutung, ein Geheimnis hinter der „Fassade“ zu kennen, kann zum Abbruch der fotografischen und sogar der menschlichen Kommunikation führen.
Was wertvoll ist, sind fremde und eigene Offenbarungen. Indem andere Personen mir Glaubwürdiges und Wahrhaftiges über das Model mitteilen, vergrößert sich die „Arena“ und der „Blinde Fleck“ wird kleiner. Noch besser: Wenn das Model über sich selbst etwas bisher Unbekanntes preisgibt. Dann „bröckelt“ (im positiven Sinne) die Fassade und das „Neubekannte“ kann ich offiziell in das Fotoshooting einbauen.
Wie ergeht es Euch beim Betrachten eines Porträts? Stellen sich da nicht auch Annahmen über die Eigenschaften, den Charakter oder die Verhaltensweisen der Person ein? Und wie oft ist es vorgekommen, dass sich Eure Vermutungen über die Persönlichkeit in Nachhinein bestätigt haben?
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!
Ihr freiwillig emeritierter (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2024 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de

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