Mit dem Anstieg der Lebenserwartung nimmt die Zahl der Demenzerkrankten auch in den Pflegeheimen ständig zu. Wirksame Medikamente gegen den geistigen Abbau und den Verfall der intellektuellen Fähigkeiten sind kurzfristig nicht zu erwarten. Was also tun? Erfolgreiche Rückerinnerung und Reflexion wird in vielen Einrichtungen u. a. durch das gemeinsame Singen der alten Kindheits- und Jugendlieder erreicht. Funktioniert das auch mit dem Betrachten von Fotografien? Und wenn ja: Warum?

Das einfache Wiedererkennen von personifizierten Gesichtern zum Beispiel geschieht selten. Zwar nehmen die Dementen anhand von Mund, Nase und Augen ein Gesicht an sich wahr, können es jedoch keiner bestimmten Person zuordnen. Agnosie heißt diese Störung – ursprünglich ist es die Unbenennbarkeit von Dingen (nach Sigmund Freud). Doch unsere Wahrnehmungskanäle sind höchstkomplex: Manchmal springen uns die Mimik, die Gestik und die Stimme der Person zur Seite. In den Demenzkranken rufen sie eine neue, bisher unbekannte Emotionalität. Eine Ressource, die uns während unserer Berufsjahre womöglich abhanden gekommen ist, weil die Kognition der Arbeitswelt unser emotionales Empfinden überschrieben und sogar unterdrückt hat. Der Wegfall der früheren hohen intellektuellen Anforderungen wird nun zum Glücksfall.

Denn anstelle der verlorenen Gehirnareale, die bisher unsere Kopflastigkeit ausgemacht haben, werden wir nun suggestibler: unsere Psyche wird aufnahmefähiger, empfänglicher für Empfindungen, Emotionen, Gefühle. Wir können also viel ungestörter, unbehelligter vom Verstand in ein Foto eintauchen, in es hineinfühlen. So, wie früher als Kinder. An Demenz Erkrankte leben aktuell in einer für sie fremden Umgebung. Sie können nicht verarbeiten, was um sie herum vor sich geht. Denn ihr Kurzzeitgedächtnis ist gestört – sie leben in der Welt ihres Langzeitgedächtnisses! Sie benötigen vertraute Erinnerungen. So, wie der auditive Langzeitkanal beim Singen geöffnet wird, wird der visuelle beim Betrachten älterer Fotos angesprochen, wird das noch intakte Langzeitgedächtnis aktiviert.

Foto: Wolfgang Schiele

Eine Möglichkeit des Umgangs mit Demenzkranken ist die Biografiearbeit. Unterstützung dabei bieten positiv besetzte Fotografien. Dabei kommt es nicht darauf an, Personen darauf namentlich zu erinnern, sondern den Gefühlen nachzugehen, die sie beim Anblick der Bilder empfinden. Vom Patienten zu erwarten, dass er früher oder später eine personalisierte Zuordnung treffen kann, ist bei einer Schädigung kognitiv verarbeitender Gehirnareale und dem Ausfall des Kurzzeitgedächtnisses illusorisch. Es geht um die Stabilisierung der Emotionalität! Um den Abbau von Verwirrung, Aggression, von Ängsten und Unsicherheiten. Deshalb müssen wir positive „Fotoschnipsel“ aus der Vergangenheit finden, in der Demente aktuell leben. Fotos sind die Boten und Transmitter in die Realität der demenziell Erkrankten, nicht die Mittel, um in unsere Realität zurückzufinden.

Eine gute Methode im Umgang mit Demenzkranken ist die Gestaltung einer Umgebung, die ihrer früheren Erfahrungswelt entspricht. Neben Gegenständen, die ihnen vertraut sind und einen Wiedererkennungswert bieten, können wir die Räume mit Fotos aus einer Zeit ausschmücken, die ihr Langzeitgedächtnis abgespeichert hat und zu dem sie Zugang haben. Es ist wie mit den Liedern, die sie in der Schulzeit erlernt haben und die sie mit anderen Betroffen zusammen singen: Sie schaffen eine neue Emotionalität.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!

Ihr freiwillig emeritierter (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

© Wolfgang Schiele 2024 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de