Beim vertiefenden Betrachten eines zweidimensionalen Bildes nehme ich als Fotograf um mich herum den dreidimensionalen Raum im Moment der Aufnahme wahr. Noch lange nach dem Fotografieren eines Motivs bleibt die Erinnerung an die gesamte Umgebung des Aufnahmestandortes erhalten. Manchmal sogar ein ganzes Leben lang. Ich kann mich dann sehr genau daran erinnern, welche Szenerie sich hinter mir befand, was sich rechts und links von mir abspielte und wo(rauf) genau ich stand.

Das meiste von dem, was das Bild gar nicht zeigt, hat sich zusätzlich in mir festgeschrieben. Damit erhält ein Bild den Status eines komplexen Erinnerungsankers. Nicht nur die Fotos an sich wirken auf mich, sondern die viel informationsintensivere abgespeicherte Wahrnehmungswelt, die während der Aufnahmesituation bestand. Sie wird beim Betrachten eines Bildes augenblicklich aus dem Erinnerungsfundus meines Gehirns reaktiviert. Würde ich z. B. viele Fotos einer zeitlich zusammenhängenden Serie aneinanderreihen, würde ich ganze Sequenzen des eigenen Lebens wieder erleben.

In einem früheren Beitrag der „Fotoschnipsel“-Reihe schrieb ich über die therapeutischen Möglichkeiten, die sich für demente Menschen eröffnen, wenn man sie tief eintauchen lässt in Bilder ihrer Vergangenheit. Dadurch wird in ihnen eine neue Emotionalität entfacht. Das fokussierte Eintauchen in ein zweidimensionales Bild erweckt die Dreidimensionalität der zurückliegenden Situation und reichert sie an mit den Aufzeichnungen weiterer Sinneskanäle. Aus dem eingefrorenen Zustand des Fotos entwickelt sich wie von Zauberhand ein räumlicher, manchmal auch ein zusätzlich zeitlicher Erinnerungsprozess. Er wird weniger vom Verstand als vielmehr vom Gefühl dominiert und gestaltet.

Als das obige Bild vor Jahren entstand, befand ich mich auf dem Säntis, einem Zweieinhalbtausender nahe St. Gallen in der Schweiz. Neben der Wahrnehmung der Wolken und Berge (visuelle Erfassung für das Foto) fühle ich gleichzeitig den Schnee unter den Füßen, weiß um das Sicherungsgeländer vor mir und den prägnanten Sendeturm hinter mir, bin mir der Partnerin bewusst, die neben mit steht, und – die für mich wesentlichste Wahrnehmung im Moment der Aufnahme – registriere ich die unheimliche Totenstille um mich herum, die alles Geräuschlose übertrifft, was ich je erlebt habe …

Vielleicht ist es ja die konzentrierte Aufmerksamkeit auf das zu fotografierende Subjekt oder Objekt, die nebenbei auch weitere Sinneseindrücke aufzeichnet. Manchmal werden uns Dinge eben erst dann bewusst, wenn wir einen Reflexionsimpuls empfangen, der dann weitere Details und Gefühle zusätzlich zum eigentlichen Bild offenlegt. So ging es mir als Dozent des Öfteren: Mit den Sachthemen befasst realisierte ich erst später nach dem Vortrag, was sonst noch im Seminarraum an Kommunikation abgelaufen war.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!

Ihr freiwillig emeritierter (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

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