Foto: Wolfgang Schiele

Ist eigentlich Vergangenheit, die nicht bildlich festgehalten wurde, eine abhandengekommene, eine gelöschte, ja nie dagewesene Zeit? Sind zurückliegende Ereignisse überhaupt real gewesen, wenn wir sie nicht bildlich exakt rekonstruieren können? Wenn es keine Fotografien vom Vergangenen gibt: Wie soll etwas geschehen sein, was nicht bildlich rekonstruierbar, dokumentierbar, reproduzierbar war oder ist?

Unsere Vergangenheit – eine Welt der massenhaft ungemachten und verlorenen Bilder. Nur äußerst bruchstückhaft können wir sie anhand weniger visueller Dokumente nachbauen. Doch verfügen wir nicht noch über andere Bildspeicher?
Da ist doch unser Kopf! Im Gegensatz zu den physisch vorhandenen Fotografien ist auf unser Gehirn im Zweifel eher weniger Verlass; es speichert bildliche Eindrücke (und nicht nur die) völlig unvollständig und mit verstreichender Zeit immer fehler- und lückenhafter ab.
Auch unsere anderen Sinne können die Bilder der Vergangenheit nicht wirklich vervollständigen. Gerüche zum Beispiel lösen meist nur kurze Bildsequenzen aus, die noch dazu wenig detailreich sind.
Sogenannte „somatische Marker“, also körperlich gespeicherte emotionale Erfahrungen der Vergangenheit, ebenso. Sie führen uns nur zu den Bildern hin, die mit besonders starken Gefühlen im Zusammenhang stehen.
Auch Sprache und Schrift füllen die Vergangenheitslücken nur zu geringen Bruchteilen. Die Bedeutungen, die hinter Schrift und Sprache stehen, sind lediglich in der Lage, einzelne Assoziationen hervorzurufen, die sich in oftmals verschwommenen Einzelbildern manifestieren und kein durchgängiges Vergangenheitsbild ergeben.


Damit bleibt die physisch in Form von Fotos aufgezeichnete Vergangenheit stark fragmentiert. Nie erreichen wir eine durchgängige Rekonstruktion und Dokumentation des abgelaufenen Lebensfilms. (Das wäre wohl auch nur möglich, wenn jemand unablässig einen Film unserer visuellen Wahrnehmungen mitgedreht hätte.)

Dazu eine These: Die Vergangenheit lebt nur von den bildlichen Aufzeichnungen, die wir in Form von Bildern, Fotos und Filmen von ihr gemacht haben. Somit hängt die persönliche Vergangenheit jedes Einzelnen besonders von der Quantität, aber auch von der Qualität des verfügbaren materiellen Bildmaterials ab. Heißt im Übrigen auch, dass ein aktiver Fotograf grundsätzlich über eine umfangreichere, beständige und in sich stimmige, schlüssige Vergangenheit verfügt als Menschen, die keine oder nur wenige Rückgriffmöglichkeiten auf physikalisch gespeicherte Bilder haben.

In diesem unbewussten Wissen haben schon unsere Großeltern Fotoalben angelegt, um ihre Vergangenheit nicht zu verlieren. Nicht umsonst hat heute jedes Smartphone eine Kamera – damit wir jederzeit und überall unsere „zukünftige Vergangenheit“ dokumentieren können und dabei haben. Nicht umsonst werden Informationsträger wie z. B. Zeitungen und Zeitschriften mit Bildern versehen, damit die Vergangenheit später authentisch und nachvollziehbar bleibt.

Bilder machen den überwiegenden Teil unserer Vergangenheit aus. Die von uns selbst gemachten Fotografien widerspiegeln zudem unsere innere Haltung, bekunden unsere Wahrhaftigkeit. Sie zeigen, was wahr, real und richtig ist und schließen das nicht Gezeigte als falsch aus. Und um die Schleife zu schließen: Unsere Vergangenheit ist in der Regel extrem fragmentiert, da sie aus Einzelbildern, bestenfalls aus kurzen bewegten Sequenzen besteht. In den meisten Fällen, und insbesondere im Alter, sehnen wir uns jedoch danach, einen durchgängigen, konsistenten und möglichst lückenlosen „Film“ unseres Lebens zu schauen. Wer auf Grund seiner Bilder, Fotos und Filme die Kausalität, Folgerichtigkeit und Sinnhaftigkeit seines Lebensweges herleiten und nachvollziehen kann, der kann auch seiner letzten Lebensphase gelassener und versöhnlicher entgegensehen.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!

Ihr freiwillig emeritierter (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

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