
Nun habe ich mich mit der Überschrift dieses Beitrages wohl selbst ein wenig überfordert. Denn die Headline ist schon mal mehrdeutig. Da geht es zum einen um das weitgefasste „Motiv Ich“, das man fotografiert hat, und zum anderen um das Fachgebiet des Ablichtens an sich. Und dann sind da noch zwei Begriffe: der Wert und der Sinn. Also zwei weitere anspruchsvolle Qualitäten.
Beginnen wir mit den Bildern, den materialisierten Fotografien, die wir in unserem Leben jemals gemacht haben (ich gehe davon aus, dass alle, die dies hier lesen, schon selbst fotografiert haben; und wenn es „nur“ ein Selfie war …) oder die von uns gemacht wurden. Sie gibt es als gedruckte schwarzweiße oder farbige Papierfotos, als Diapositive (ich hoffe, alle wissen was das ist …) bzw. als elektronisch gespeicherte Aufnahmen. Die ältesten werden aus den Zeiten stammen, die wir gar nicht selbst erinnern können (Stichwort: infantile Amnesie). Dann folgen bestimmt viele Fotos aus Lebensabschnitten, die wir zwar bewusst erlebt haben und erinnern können. Doch diese Bilder gehen nicht auf uns selbst zurück. Und dann die Fotografien aus den Zeiträumen, in denen wir womöglich selbst fotografisch unterwegs waren. Vielleicht mit einer eigenen Kamera, die insbesondere nicht uns, sondern die Umwelt aufgenommen hat. Für fast alle, so meine ich, startet irgendwann auch die Phase des Selbstfotografierens – spätestens mit dem Aufkommen von Smartphones, die über eine Selfie-Funktion verfügen.
Beim Betrachten von frühen Kinderfotos kann ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen – allerdings fehlt mir der intrinsisch-emotionale Bezug zum Abgebildeten, die persönliche Betroffenheit. Gefühle kommen nicht auf und meine Wertung bleibt weitestgehend inhaltsneutral. Diese Fotografien ergänzen allerdings meine „blinde Zeitspanne“ bis zu dem Moment, ab dem ich meine (selbst-)bewusste, visuelle Welterfahrung abspeichern kann.
Ab diesem Zeitpunkt verbinden sich mit den Bildern – zumindest bruchstückhaft und vielleicht nicht immer chronologisch korrekt – weitere abgelegte Sinneseindrücke. Im besten Fall laufen auf der Tonspur sogar kleine Geschichten oder Gefühlssequenzen mit, die die Motive anreichern, aber sie nicht immer echt wirken lassen. Ihre Verlässlichkeit muss ich manchmal bei Dritten hinterfragen. Ist die zeitliche Entfernung zum Foto sehr groß, dann fehlt der Zuschnitt auf mich selbst; die emotionale Annäherung ist schwierig, manchmal sogar unmöglich.
Aus dem mittleren Lebensabschnitt gibt es erfahrungsgemäß die meisten Fotos. Durchaus möglich, dass der Fundus überwiegend aus eigenen Aufnahmen besteht. Sollte das der Fall sein, dann aktivieren sie häufiger einen gefühlsmäßigen Impuls, der die Authentizität des Geschehenen belegt und verstärkt. In der langen Periode zwischen der jugendlichen Ausgereiftheit bis zum Beginn der Ruhestandssehnsucht haben sich ganz viele Gedächtnisanker eingegraben. Sie lichten sich, sobald ich mich in das Foto vertiefe und verleihen dem Motiv zugleich mehr Gedanken- und Gefühlstiefe. Aber sie dienen auch als Auslöser für spannende Regressionen in die mittlere Erwachsenenzeit.
Die letzte Gruppe von Fotografien ist jene, die sich permanent ins tägliche Bewusstsein hineinmogelt. Diese Bilder sind vor etwa 15 Jahren und danach entstanden. Dass sie für mich omnipräsent sind liegt auch daran, dass ich mich aktuell mit der Aufarbeitung meines Fotoarchives beschäftige. Bei den meisten weiß ich – in Abstufungen – wo, wann und unter welchen Umständen sie entstanden sind. Zu ihnen pflege ich eine tiefe persönliche Beziehung. Sie sind zu Objekten geworden, die ich weiterentwickle (z. B. als Zitatografien) und die ich als Reflexionsanker nutze. Sie lösen oftmals eine durchaus erwünschte Schwermut oder Melancholie in mir aus und dienen als Platzhalter für den Rückblick auf meinen wohl wichtigsten Lebensabschnitt: den Übergang vom Beruf in den Ruhestand.
Die erste der genannten Gruppen ist von hohem Wert, weil sie etwas speichert, was nicht durch meine eigene Erinnerung und Erfahrung gestützt wird. Ein Lückenfüller, der meine Existenz begründet. Hier gibt es allerdings noch wenig Sinnhaftes zu entdecken.
Mit der zweiten Gruppe verbinden sich die Werte der Selbstfindung und des Weltverständnisses, die für meinen weiteren Lebensweg und das beeinflussbare biografische Konzept prägend waren. Hier beginnt meine Suche nach dem Lebenssinn.
In der dritten Gruppe übernimmt die Sinnhaftigkeit das Ruder. Die Wertewelt hat sich formiert und gefestigt. Das Universum aus Appetenz- und Aversionswerten legt ein stabiles Fundament für die Weltanschauung und ist nicht leicht zu widerlegen. Fotografische Motive werden jetzt zu Deutungsbegleitern. Sie haben oftmals Symbolcharakter. Ich suche und verfolge sie regelrecht und bin bei der Auswahl von Sinnbildern bereits gedanklich mit ihrer abschließenden Einordnung in meine visuelle Gesamtwelt befasst.
Die vierte Gruppe von Fotografien gleicht einem Befreiungsschlag: Ich bin der Berufswelt entschlüpft und reise ob der zeitlichen Möglichkeiten mehr. Dadurch wird auch das visuelle Material umfangreicher. Der Wert der Bilder für mein Leben nimmt weiter zu. Auch, weil ich in meiner jetzigen Freitätigkeit viel empfänglicher für die Welt um mich herum sein kann und sein darf. Und als Coach und Trainer Fotografie vor vielen Menschen als Begleitung mentaler Veränderungen einsetzen kann. Hier erlangen sie Bedeutung für Dritte, können sinnstiftend in Veränderungsprozessen sein.
Worüber ich bisher nicht geschrieben habe: Die Fotografie als Fachgebiet. Als (neues) Tun, als Beschäftigung, als Passion in der dritten Lebensphase! Wer bisher nicht selbst fotografisch aktiv geworden sein sollte (mal ausgenommen das „Knipsen mit dem Handy“), der kann in der Beschäftigung mit dem „Phänomen Fotografie“ für sich ein neues Hobby begründen, sich neue sinnliche Lebensräume erschließen oder sogar selbsttherapeutisch aktiv werden.
Die eigene Bildkomposition kann vor allem im Alter völlig neue und modifizierte Sichten auf die Welt und das eigene Leben hervorbringen. Sie kann ein neues Selbstverständnis generieren, den eigenen Lebensgang sinnvoll ergänzen und das durchlaufene biografische Konzept plausibler und konsistenter machen. Manchmal vermögen einige wenige Bilder bereits den eigenen, vielleicht negativ angehauchten Lebensrückblick zu entschärfen und zu harmonisieren. Vielleicht hat es gerade des fotografischen Verständnisses und der visuell-gestalterischen Einsicht bedurft, um dem Leben einen präfinalen Sinnschub zu verleihen.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!
Ihr freiwillig emeritierter (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2025 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de

12. Februar 2025 at 17:06
Das ist schön, wenn der Ruhestand ‚Freiheit‘ bringt.
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9. Februar 2025 at 10:55
Das freut mich sehr – zwei „Sichere Orte“ oder Wohlfühlorte, die die Seele gut gebrauchen kann! Einen schönen Sonntag!
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9. Februar 2025 at 10:53
Chapeau! Meinen Glückwunsch und noch ein weiteres, langes und erfülltes Leben!
Ja, nun sind es 30 Fotoschnipsel – und irgendwann soll mal ein Buch daraus werden – vielleicht unter dem Titel „Fotografie und psychologische Intervention“.
Einen schönen Sonntag!
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9. Februar 2025 at 10:22
Ich fide es wirklich gelungen. Es läßt Raum zur Phantasie. Das gefällt mir.
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9. Februar 2025 at 9:48
Am liebsten male und photographiere ich Blüten im Sonnenschein. .
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9. Februar 2025 at 9:46
Ich schrieb einmal etwas zum Thema „Kunst und Photographie“ mit dem Untertitel „Ich Photographie auch Kunst?“ Für eine Aufnahmeprüfung hatte ich es geschrieben. In Wirklichkeit aber wurde es zu einem Thema bis heute. Bin jetzt 86 geworden.
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