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Sie kennen das, glaube ich, alle: wir nehmen einen bestimmten Geruch wahr und befinden uns plötzlich in der Küche unserer Großmutter, die das Lieblingsgericht unserer Kindheit zubereitet …

Das ist eine spontane Erinnerung, die wir in unserem Langzeitgedächtnis „archiviert“ haben und die unwillkürlich angetriggert wird durch einen äußeren olfaktorischen Reiz. Und so gibt es viele Reize, die in uns unbewusst meist angenehme Assoziationsketten früherer Erlebnisse und Situationen auslösen.

Jetzt, wo ich das 60. Lebensjahr hinter mir gelassen habe, versuche ich von Zeit zu Zeit, das eigene Leben bewusst Revue passieren zu lassen. Und ich muss feststellen, dass diese gewillkürten Erinnerungsversuche, nennen wir es einfach LEBENSRÜCKBLICK, recht lückenhaft zu sein scheinen. Wenn ich in Gedanken meinen Zeitstrahl von der Kindheit bis ins Heute überfliege, dann habe ich das Gefühl, dass es bestimmte zeitliche Abschnitte gibt, in denen eine Vielzahl von lebendigen und bildhaften Episoden vorkommt. Sie stammen vielfach aus der Kindheit und Jugendzeit. Und dann gibt es wieder welche, wo ich lange suchen muss, zu denen ich nur einige wenige und meist zusammenhanglose Fragmente erinnere und am Ende ein wenig ratlos dastehe.

So erinnere ich mich z. B. sehr gut und ausgiebig an meinen ersten Arbeitstag nach dem Studium. Ich begann meinen Berufsweg in einer kleinen Abteilung, wurde dort allen Mitarbeitern persönlich vorgestellt und folgte meinem altgedienten Chef brav durch viele technische Bereiche. Noch heute kann ich mit großer Genauigkeit sagen, in welche Zimmer wir hineingingen und mit welchen Gefühlen ich als Novize Hände geschüttelt und welche Worte ich über mich gesagt habe.

Doch zu den folgenden fast 40 Jahren Berufsleben erinnere ich meist nur sehr nebulöse Bilder und Situationen, wenig Verbindendes und oftmals nur lückenhaftes Erinnerungsgut. Einige der wenigen Ausnahmen bilden berufliche Karriereschritte, die nicht vordergründig mit fachlich-inhaltlichen Veränderungen zu tun hatten, sondern hauptsächlich mit Ortswechseln oder der Trennung von vertrauten und liebgewonnenen KollegInnen.

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Und auch im persönlichen Kontext, vorrangig ab etwa dem 25. Lebensjahr bis hinein in die fünfziger Lebensjahre, ist meine Erinnerungsdichte und -intensität eher gering und schwach ausgeprägt. Von High-lights wie eigener Hochzeit, Kindesgeburt, einigen spannenden Urlauben und stressigem Hausbau mal abgesehen. Die konkreten Erinnerungen an das alltägliche Einerlei, an die Auseinandersetzung mit Fragen der Existenzsicherung und an den Aufbau der Karriere scheinen wie ein Hintergrundrauschen unscharf, farblos und – was mir immer wieder auffällt – ohne Zuhilfenahme von Aufzeichnungen und Kalendarien zeitlich nur sehr ungenau einordenbar.

Die frühesten Erinnerungen, die wir überhaupt an unser Leben haben können, ist nach übereinstimmender Meinung fast aller Forscher ein Rückblick bis ins vierte Lebensjahr. Erinnerungen an die Zeit davor sind uns nicht zugänglich. Neulich fand ich im Buch „Der Lebensrückblick in Therapie und Beratung“ (Maercker/Forstmeier, Springer Verlag) meine Selbstbeobachtungen teilweise bestätigt. Nach P. Fromholt soll es einen sog. „ERINNERUNGSHÜGEL“ auf der persönlichen timeline geben. Dieser „erhebt sich“ in der Altersspanne etwa zwischen dem 10. und 25. Lebensjahr. Hier befindet sich das Maximum des prozentualen Anteils erinnerbarer Situationen. Es liegt bei etwa 25%. Danach fällt die Erinnerungsfähigkeit an Lebensepisoden kontinuierlich ab, bis sie im Alter von etwa 55 Lebensjahren ihr Minimum bei 5% erreicht. Dann klettert die Verlaufskurve wieder hoch auf circa 10%. Das heißt: junge Menschen und Senioren erinnern sich häufiger an ihre Vergangenheit als Menschen im mittleren Lebensalter.

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Die Gründe für das Vorhandensein eines Erinnerungshügels in der Kindheits- und Jugendzeit sollen darin liegen, dass sich zum einen in diesem Lebensabschnitt unsere Identität herausgebildet hat. Prozesse der eigenen Selbsterkenntnis, Selbstreflektion und Selbstgestaltung haben vermehrt der Rückerinnerung an vergangene Erlebnisse und Erfahrungen bedurft, um dem Ichsein seine Unverwechselbarkeit zu verleihen. Zum anderen haben ein hohes Kontrollgefühl und der Drang und/oder Zwang hin zu Unabhängigkeit und Selbständigkeit die Notwendigkeit für Erinnerungen intensiviert. Zu guter Letzt kommt es in dieser Lebensphase zur Ausprägung von Vorlieben und Abneigungen und zur Entscheidungsfrage für die spätere berufliche Entwicklung, die mit den bisherigen Erfahrungen abgeglichen sein wollen.

Die Renaissance der Erinnerungsintensivierung in der dritten Lebensphase ist wohl zurückzuführen auf die Versuche zur Selbstreflektion über uns, uns nahe stehende Menschen und über die Dinge, die wir im Laufe unseres Lebens getan – oder auch unterlassen haben. Um ein Fazit zu ziehen und die Sinnhaftigkeit unserer Existenz zu überprüfen, zu bestätigen oder auch zu verleugnen. Und vielleicht auch eine Antwort darauf zu bekommen, ob es sich gelohnt hat, zu leben.

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  • An welche Zeit in Ihrem Leben erinnern Sie sich sehr intensiv und an viele eng aufeinander folgende, erinnerbare Episoden? Und an welche nicht?
  • Wie gelingt es Ihnen, Erinnerungen wachzurufen? Oder geht es Ihnen auch so, dass Sie sich für bestimmte Zeiträume teilamnesiert fühlen?
  • Welche Situationen können Sie (auch ohne Hilfsmittel) punktgenau einem Zeitpunkt zuordnen und wo fällt es ihnen schwer, einen genauen Termin für eine erinnerte Episode zu bestimmen?
  • Und wo klaffen Erinnerungslücken zu Ihrem Lebenslauf? Was und welche Zeiträume entziehen sich womöglich hartnäckig Ihrem Erinnerungsversuch?

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Ich freue mich auf Ihre Wortmeldungen, Kommentare und Hinweise!

Ihr (Vor)Ruhestandscoach Wolfgang Schiele

PS: In meinen Coachings biete ich Interessenten und Klienten u. a. die Möglichkeit, den eigenen Lebenslauf zu erkunden: Erfahrungen im Rückspiegel des Lebens zu reflektieren, eine Momentaufnahme über das Hier und Jetzt zu machen und mit dem Visionsscheinwerfer neue (Alters)Ziele zu entdecken.

© Wolfgang Schiele 2017 | Coaching50plus | www.coachingfiftyplus.de