Grafik: Pixabay

Viele Menschen möchten sich – je älter sie werden – vergewissern, ob das Leben, das sie gelebt haben, auch sinnvoll und richtig war. Wobei die Wertevorstellungen, die hinter den Begriffen „richtig“ und „sinnvoll“ stehen, ein enorm breites Spektrum überstreichen. Nichtsdestotrotz lohnt es sich immer wieder, in die Vergangenheit einzutauchen und den Versuch einer kritischen, aber wohlwollenden Lebensrefleion zu unternehmen …

Zeit für die Rückschau
In meinen Seminaren und Coachings nimmt die Biographiearbeit einen festen Platz ein. Schon als ich mich zum ersten Mal dem Thema Ruhestand näherte, war mir klar, dass jeder Mensch zu irgendeinem Zeitpunkt im Leben eine Rückschau hält und ein Urteil über das Geschehene fällt. Meist findet diese Reflexion zu einer Zeit statt, die nicht gerade mit fremdbestimmter Arbeit überfrachtet ist – nämlich in der dritten Lebensphase.

Veruntreute Biografien?
Aber wie mit den Ergebnissen umgehen? Was, wenn sich herausstellt, dass wir wiederholt falsche Wege eingeschlagen, haarsträubende Fehlentscheidungen getroffen oder befremdliche Dinge angestellt haben? Wenn sich im Nachhinein die Überzeugung breit macht, Lebenszeit verpasst, versäumt, ja „veruntreut“ zu haben? Wenn die eigenen Zweifel wie Gespenster im Raum stehen und mir drohend zuraunen: „Du hattest es in der Hand – und nun ist es zu spät!“

Strukturiert vorgehen
Ganz abgesehen davon, dass die dritte Lebenshälfte rein statistisch betrachtet 20 plus/minus x Jahre andauert und noch Luft bleibt für manch Abenteuer, Sehnsuchtsziel oder Altersprojekt, kann man doch möglichen Katzenjammer oder eine Art Selbstkasteiung nicht ausschließen. Also warum nicht beizeiten eine Art Bestandsaufnahme machen. Idealerweise mit einem erfahrenen Coach, der strukturiert und methodisch geschult durch den gesamten Prozess führt. Und dieser Prozess besteht nicht nur aus einem einfachen Rückblick. Aber der Reihe nach …

Das „Lebensphasenmodell“
Je nach Alter beginnt der Ausflug in die eigene Biografie mit der individuellen Verortung im Lebensphasenmodell (früher auch Lebenstreppe genannt – aber mir gefällt nicht, dass diese Treppe zum Schluss hin wieder nach unten führt …). Im reifen Erwachsenenalter befinden wir uns entweder in der autoritär-sozialen oder in der autoritär-gelassenen Lebensphase (siehe Grafik). Entweder gehen wir vermehrt sozialen Aktivitäten, nehmen proaktiv am gesellschaftlichen Leben teil oder wir genießen unser Leben in der „Späten Freiheit“ und holen nach, was wir bisher aus unserem Lebenskonzept ausblenden mussten.
Damit hätten wir eine erste Standortbestimmung vorgenommen.

Grafik: Wolfgang Schiele

Blick in den „Rückspiegel des Lebens
Dann folgt eine dreigeteilte Lebensbetrachtung. Sie startet mit einem intensiven Blick in den „Rückspiegel des Lebens“. Es geht in erster Linie darum, Entscheidungen und Erfahrungen der Vergangenheit zu verstehen, sie so anzunehmen, wie sie sind und sie schließlich auch als folgerichtigen Teil der eigenen Existenz zu akzeptieren. Es hilft niemanden, vermeintlich Verlorenem und Unterlassenem nachzutrauern; alle unsere Entscheidungen waren zu ihrem Zeitpunkt die besten, die wir unter den gegebenen Bedingungen treffen konnten! Im Mittelpunkt des Lebensrückblicksinterviews sollten also die sog. „SEE“, die „Signifikanten Emotionalen Ereignisse“ stehen, die uns geformt, gestärkt und geleitet haben im Leben. Der Rückspiegelblick soll die wichtigsten Erfolge, die größten Stärken und die nachhaltigsten Erfahrungen aufdecken und vergegenwärtigen. Zu den Kernfragen, die im Lebensrückblicksinterview gestellt werden sollten, gehören solche, wie: „Was hat mich am meisten motiviert? Woraus habe ich meine Kraft geschöpft? Wie und mit welchen Mitteln ist mir das gelungen? Wer und was haben mich zu dem werden lassen, der oder die ich bin?“

Grafik: Wolfgang Schiele

Bestandsaufnahme durch den „Lebens-TÜV“
Dann kommen ich zum „Boxenstopp“. Mit dem Innehalten entsteht das Zeitfenster für eine ganz persönliche Inventur. Es ist der Moment, wo ich mich fragen sollte: „Wo stehe ich heute im Leben? Was erscheint mir in Hier und Jetzt wichtig? Welchen Menschen und Gruppen fühle ich mich zugehörig? Was bedeuten für mich Lebensqualität, Gesundheit und Wohlergehen?“ Genau jetzt ist der Augenblick gekommen, an dem es wichtig ist, seine Erfolge und seine Siege (und wenn es sein muss: auch seine stärkenden Niederlagen!) ausgiebig zu würdigen und zu wertschätzen! Es sollte genau der Augenblick sein, in dem ich dankbar konstatiere, was mir alles gelungen ist: Einen Beruf ergriffen, eine eigene Existenz aufgebaut, Kinder großgezogen und mich selbst immer wieder über die kleinen und großen Misslichkeiten der Welt hinweggesetzt zu haben. Es ist der Moment, seine persönliche „Heldenreise“ in Gelassenheit und mit Wohlgefallen als Film ablaufen zu lassen und sich mit seiner eigenen Vergangenheit zu identifizieren und zu versöhnen.

Den „Visionsscheinwerfer“ anschalten
In der dritten Phase der Biografiearbeit gilt es, nach vorn zu schauen. Hier stelle ich mir Fragen wie: „Was will ich im Leben noch erreichen, welche Sehnsuchtsziele und Kindheitsträume noch verwirklichen? Wozu fühle ich mich berufen? Was macht die Zukunft nützlich, wertvoll und sinngebend für mich? Wie sollen die Spuren aussehen, die ich hinterlassen möchte?“ Hier geht es um nicht mehr oder weniger als die Frage: Wie will ich meine Biografie vervollständigen und meinen Lebensplan vollenden? So denke ich z. B. am mein künftiges Ich in einigen Jahren. Was müsste ich bereits jetzt tun, damit es ihm später gut geht? Was würde mein zukünftiges Ich von mir heute erwarten? Vielleicht hilft es ja, mir z. B. einen fiktiven „Brief aus der Zukunft“ zu schreiben. Darin teile ich mir selbst mit, worauf ich mich freuen kann, was sich in den kommenden Lebensjahren verändert oder gestalten lässt – oder einfach nur, was zwischenzeitlich so alles passiert ist …

Meinen ersten Brief aus der Zukunft habe ich übrigens vor über 40 Monaten anlässlich eines Seminars geschrieben. Wenn fünf Jahre vorbei sind, werde ich ihn öffnen … und lesen, was eingetreten ist und was ich selbst gestaltet und bestimmt habe. Aber auch, was ich falsch beurteilt und vergessen habe. In jedem Fall werde ich aber die Zeilen genießen und bestimmt leise in mich hineinschmunzeln …

Reflektion, Standortbestimmung und Zukunftsplanung sind die drei fundamentalen Bausteine einer erfüllenden und engagierten Lebensbetrachtung. Sie sollten in keiner Biografiearbeit mit Klienten oder Coachees fehlen.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße! Und lassen Sie sich in der Tat einmal auf ein Lebensrückblickinterview ein! Es kann Ihnen helfen, Ihr eigenes Selbstverständnis signifikant zu verbessern und das verstrichene Leben in einem neuen Gesamtkontext zu sehen


Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

© Wolfgang Schiele 2019, aktualisiert 2023 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de