
Viele wissenschaftliche Untersuchungen wurden schon zum Phänomen des gefühltes Alters gemacht. Fast alle, die in den beiden letzten Jahrzehnten veröffentlicht wurden, kommen zu demselben grundsätzlichen Ergebnis: Je älter wir werden, desto größer wird die Spanne zwischen dem chronologischen und unserem gefühlten Lebensalter.
Wenn ich es recht bedenke, bin ich doch auch schon recht alt. Denn heute, wo ich diese Zeilen schreibe, stelle ich fest: Es ist der 8. Tag meines 70. Lebensjahres! Wow! Ich erinnere mich noch sehr genau an den 60. Geburtstag meines Großvaters (da war ich 10 Jahre alt) und ich dachte damals: „Mein Gott, was ist der Opa schon alt geworden! Ob ich dieses Alter überhaupt erreichen werde?“
Merkwürdig: Als ich jung war und zu den Promis, den Lieblingsmusikern und Idolen hochschaute, hatte ich immer das Gefühl, dass sie durchweg einige Jahre älter waren als ich. Und immer wieder wird dieser Dauerirrtum heute korrigiert, wenn ich in den Medien lese, dass X oder Y oder Z im Alter von xy Jahren verstorben seien. Oft sogar in einem Lebensalter, das ich bereits überschritten habe! In meiner Jugend habe ich mir niemals über das Alter der anderen Gedanken gemacht, nur über die eigenen vergangenen Jahre. Von den anderen nahm ich regelmäßig an, dass sie älter und gerade deshalb erfolgreicher und (bühnen-)präsenter sind. Doch nun bin geläutert: Der Nimbus meiner Kindheitshelden ist dahin …
Gibt es für das Alter überhaupt ein Gefühl, so wie man beispielsweise Trauer empfinden, Freude auskosten und Wut aus sich herausschreien kann? „Ich fühle mich nur alt, wenn ich auf Gleichaltrige treffe“, so eine Aussage, die man von Jungfühlenden ab und an hört. Gibt es Vorgaben, Maßstäbe oder Aufstellungen, an denen man messen kann, wie man sich fühlen sollte oder müsste, wenn man 56, 67, 78 oder 93 ist? Macht es überhaupt Sinn, Messlatten, Kriterien oder Vorbilder zu Rate zu ziehen, um für sich festzustellen, welches gefühlte Alter man nunmehr erreicht oder auch verfehlt hat?
Die Entwicklungspsychologie definiert soziale Gruppen, die auf unseren Wahrnehmungen und Wertungen gegenüber Menschen beruhen. Die vier stärksten Bewertungskategorien sind unsere Hautfarbe, unsere ethnische Herkunft, unser Geschlecht und unser Alter. (Sie werden übrigens in jedem Unfallbericht, und sei er noch so kurz und beiläufig, mitgeführt: „Der 58jährige Asylbewerber aus Syrien kam mit seinem Motorrad aus ungeklärter Ursache von der Fahrbahn ab.“) Die dynamischste der vier ist übrigens das Alter – es verändert sich ständig und unaufhaltsam. Es soll sogar Klagen geben, weil man sein Alter nicht z. B. amtlich zurücksetzen kann – mit dem Namen, dem Geschlecht und der Staatsbürgerschaft ginge das ja schließlich auch. Dieser Denkansatz ist nicht zu unterschätzen: Denn je jünger wir sind, desto besser sind unsere Chancen auf einen Job, einen Kredit oder eine neue Liebe.

Wissenschaftliche Untersuchungen haben nachgewiesen, dass sich Kinder und Adoleszente bis zu drei Jahre älter machen als sie sind. Aus gutem Grund: Sie möchten etwas dürfen können – Alkohol trinken, Sex haben, Autofahren. Mit fortschreitendem Alter gibt es eine radikale Trendumkehr: Das gefühlte Alter kann bis zu 21 Jahre geringer sein als das chronologische! Leider ändert sich im Alter trotz der jugendlichen Gefühle etwas: Wir können oder dürfen nicht mehr alles machen, was wir möchten … – siehe die eben genannten Beispiele!
„Alt sind immer nur die anderen“. Da ist was Wahres dran. Denn eine 23 Jahre währende Längsschnittstudie an der Yale University hat ergeben, dass Menschen mit einer positiven Selbstwahrnehmung zum einen gesünder bleiben und zum anderen siebeneinhalb Jahre länger leben als Menschen mit einer negativen Haltung zum Altern. Die Gesundheit hat im Alter ohnehin einen hohen Stellen- und Lebenswert. Die Spreizung zwischen dem gefühlten und dem biologischen Alter will man mit medizinischen Mitteln auf die Schliche kommen: Biomarker sollen Auskunft über die körperliche Fitness, die Denkfähigkeit des Gehirns und die verbleibende Lebenserwartung geben. Vielleicht sind die Marker eines Tages aussagekräftig genug, um konkrete Handlungsvorgaben für erfolgreiches, gesundes und langes Leben zu machen. Und die Frage zu beantworten, warum wir uns regelmäßig jünger fühlen.
Das subjektive Empfinden des erlebten Alters ist in ständigem Wechsel – minütlich, stündlich, täglich. Emotionale Aufreger können die Differenz zwischen dem amtlichen Alter und dem Jugendrausch krass beeinflussen – je nachdem, ob sie die Seele positiv oder negativ beeinflussen. Einmal sind wir agil wie Berufsjugendliche, ein andermal immobil wie Greise. Wie die Journalistin Nataly Bleuel (DIE ZEIT N° 21; „Warum fühlen wir uns jünger als wir sind?“) schreibt, macht Unglück alt, ebenso wie Stress und Armut. Oder auch die Schubladendenke über die verschiedenen Generationen hinweg: „Junge sind faul, unpünktlich, widerspenstig, unzuverlässig … Mittelalte sind gesetzt, ehrgeizig, dominant … Alte sind vergesslich, langsam, stur, konservativ, digitale Dödel, dement und pflegebedürftig.“ Diese Art der systematischen Stereotypisierung und Zurücksetzung nennt man Ageismus (Ageism) – die negative Bewertung von Menschen und ihren Verhaltensweisen aufgrund ihres Alters. Manche sagen auch Altersdiskriminierung dazu …

Selbstredend verändern wir uns. Wir spüren – meist zuerst am Körper, dann am Geist – dass unsere Fähigkeiten auf Grenzen stoßen. Wichtig ist jedoch, sich zu akzeptieren, wie man ist. Anzuerkennen, dass man vieles nicht ändern kann und trotzdem das Leben genießen darf. Den Körper und seinen Geist zu schätzen und empathischer zu werden; auch zu sich selbst. Auf andauernde Vergleiche mit anderen zu verzichten und immer in Bewegung zu bleiben. Und es gibt noch eine frohe Botschaft zu verkünden: Auch wenn unsere fluide Intelligenz, unser Auffassungsvermögen und die Lerngeschwindigkeit, nachlassen – unsere kristalline Intelligenz, die Gesamtheit an Wissen und Lebenserfahrungen nimmt immer weiter zu. Damit können wir punkten, beeindrucken und sogar bezaubern …
Womöglich ist unser Hang zum Jüngerfühlen auch deshalb so ausgeprägt, weil wir uns dem gelebten Leben näher fühlen als dem ungelebten. Und vielleicht auch aus einem inneren kindlichen Trotz und Widerstand heraus, weil wir wissen, dass die Zeitspanne bis zum Abschied immer kürzer wird. Je älter wir werden, desto öfter begeben wir uns auf eine Rückschau und beurteilen die Erlebnisse der Vergangenheit intensiver als wir uns auf die Zukunft einlassen und noch neue Lebenspläne schmieden. Wir hängen gedanklich an der Jugend – warum soll sich nicht auch die Seele in ihre Blütezeit zurückversetzen dürfen?

Beenden möchte ich diesen Exkurs über die Altersdiskussion mit einem Zitat von Erika Pluhar:
„Wenn wir alles an uns so lassen, wie es ist, altern wir am schönsten.“
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!
Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Best ager
© Wolfgang Schiele 2023 | coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de

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