Ich gehe mal davon aus, dass Sie schon eines oder mehrere Seminare oder Workshops bzw. Kurse besucht haben. Oder sogar Webinare – Onlinekurse vor dem rechteckigen Bildschirm. Nun kommt die Gewissensfrage: Warum haben Sie teilgenommen? War es Ihr eigener Beweggrund oder wurden Sie von Dritten „hinbewegt“ zum Seminar/Webinar …

War es, weil Sie aus eigenen Stücken am Thema interessiert waren? Oder weil Sie von Ihrem Vorgesetzten gedrängt wurden, den Kurs zu besuchen? Oder weil Sie meinten, sich mit dieser Fortbildung Fachwissen anzueignen, über das andere nicht verfügen? Oder weil Sie dachten, im Seminar eine Bühne für Ihr Wissen zu finden, mit dem Sie der Gruppe (und evtl. auch dem Trainer) zeigen würden, was alles Sie können und wissen?

Der Entwickler der „lösungsorientierten Kurz(zeit)therapie“, Steve de Shazer, ein US-amerikanischer Psychotherapeut, hat ursprünglich drei Typen von „Klienten“ beschrieben, die sich auch immer wieder in Seminaren wiederfinden:

Die anderen sind schuld!“ oder „Die Klagenden“

Diese Menschen sehen sich einem Problem ausgesetzt, das sie als fremdgemacht erleben. Sie betrachten sich hier (z. B. im Seminar) als fehl am Platze. Andere, z. B. die Chefs, müssten hier und heute zugegen sein. Sie verweisen gern auf Dritte und weisen Ihnen die alleinige Schuld zu. Am liebsten wäre es ihnen, wenn der Berater/Therapeut/Trainer/Coach diesen Dritten via Fernbedienung behandelte, umprogrammierte oder am besten sogar aus seiner (Macht-)Position entfernte. Dann wäre das Problem für den „Klagenden“ gelöst. Er lebt die Opferrolle und wünscht sich sehnlichst: „Ändere du (Berater/Coach/Therapeut …) für mich andere, die ich schon lange zu ändern versuchte, aber ohne genügenden Erfolg“ (Zitat: Gunther Schmidt).

Der Klagende sieht sich aktuell nicht als Teil des Problems und (noch) nicht als Teil der Lösung. Mit diesen Teilnehmern oder Klienten sollte man in einen guten Rapport kommen und eine empathische Position einnehmen. Sie benötigen zuvorderst eine bemitleidenswerte Anteilnahme („Wie halten Sie das aus?“), das Mitheulen auf klagendem Niveau … um dann Schritt für Schritt in eine „therapeutische Allianz“ hinüberzugleiten. Das geschieht am besten mit der Suche nach Ausnahmen vom Problem. Und vielleicht mit der Frage, was sie denn stattdessen gern haben möchten, wie lange und mit wem – und sich damit gleichzeitig auf die eigene Zielsuche zu begeben.

Ich wurde geschickt!“ oder „Die Besucher“

Das sind die Menschen, die sich ernsthaft fragen: „Was soll ich überhaupt hier? Ich habe überhaupt kein Interesse, kein Anliegen und erst recht kein Problem.“ Sie verweisen auf Dritte, die ihnen empfohlen, geraten oder befohlen haben, dieses Seminar, diese Therapie oder eine wie auch immer geartete Maßnahme zu besuchen. Ihr Blick ist nach hinten gerichtet und deutet auf eine sie delegierende Person hin. Gern möchten sie die aktuelle „Veranstaltung“ ausfallen lassen, doch sie befürchten Sanktionen von höherer Stelle, von ihren Problemzuschreibern. Was oft erst auf den zweiten Blick auffällt: Sie befinden sich in einer Abhängigkeit von ihren Zuweisern. Deshalb bietet es sich an, diesen „Gästen“ das Gefühl zu geben, dass sie mit ihrem (Seminar-)Besuch in allererster Linie ihre Delegierenden zufrieden stellen.

Der Königsweg besteht darin, ihnen ihre Würde zurückzugeben und ihnen anzubieten, die eigenen Vorstellungen und Ideen in das Event einzubringen, etwa nach dem Motto: „Was hätten Sie denn gern?“ (… wo Sie schon mal da sind …) oder „Was kann ich dafür tun, dass es dennoch für Sie ein akzeptables Event wird?“

Ich möchte lernen!“ oder „Die Klienten“

Sie sind gekommen, um zu bleiben – und sich überraschen zu lassen. Sie möchten sich persönlich weiterentwickeln oder benötigen echte Hilfe und sind deshalb bereit, einen eigenen Beitrag dafür zu leisten. Sie sind aus eigenen Stücken hier angetreten, ihre intrinsische Motivation und Neugier haben sie hierher geführt und sie verfügen über eine offene Haltung und vielfältige geistige Freiräume. Mit ihnen ist es weitaus leichter, eine therapeutische Allianz einzugehen, sich auf Augenhöhe zu begegnen und einen (gegenseitigen) Zugewinn an Wissen und Methoden zu erlangen.

Allerdings können auch sie aus einer falschen Erwartungshaltung heraus oder infolge verfälschter Vorinformationen enttäuscht sein. Mit diesen Klienten sollte ein prozessorientierter Abgleich erfolgen und der Berater/Therapeut/Trainer/ sollte sein Programm bzw. Vorgehen individuell und maßvoll an die Vorstellungen des Klienten anpassen.

Ich weiß, wie es geht!“ oder „Der Co-Moderator“

Der Co-Moderator ist Experte und hat bisher mit seinen Mitteln versucht, das „Problem“ zu lösen – allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Nun ist er auf der Suche nach einem Verbündeten, den er im Therapeuten/Trainer/Coach/Berater gefunden zu haben glaubt.

Vorschlag: Man sollte sich den Co-Moderator zum Verbündeten machen und ihn keinesfalls ignorieren, denn er verfügt in der Regel über gute kontextbezogene Beratungsideen, die allen zugute kommen können. Vielleicht „ernennen“ Sie ihn zum „Hüter der Expertise“. Übertragen Sie ihm eine begleitende Aufgabe und stärken Sie sein Selbstwertgefühl, ohne Ihr eigenes Konzept komplett umzustellen. Nehmen Sie ihn aber auch in die Pflicht, mindestens eine neue, lösungsorientierte Idee für sich zu entwickeln und auszuprobieren. (Diese Typ-Erweiterung „Co-Moderator“ geht meines Wissens auf Gunther Schmidt zurück.)

Da die lösungsorientierte Kurz(zeit)therapie immer das Gesamtsystem „Klient – Therapeut“/“Teilnehmer – Seminarleiter“ betrachtet, macht es Sinn, die Positionen von Therapeut/Trainer/Coach sowie Klient/Klagender/Besucher/Co-Moderator in einem Diagramm – hier der sog. „Leary-Rose“ – darzustellen. Leary´s Kreismodell pendelt auf der „Machtachse“ zwischen den Polen dominant und unterwürfig und auf der „Sympathieachse“ zwischen den Extremen freundlich und abweisend.

Im klassisch-schulmedizinischen Modell ist der Therapeut auch immer der Experte, der gegenüber dem Klienten von „oben“ herabschaut, Ratschläge erteilt und dominant ist. Der Klient kommt eher unterwürfig daher – und weil er Hilfe sucht – regelmäßig auch kooperativ und freundlich. In einem erfolgreichen Coaching, aber auch in zielorientierten Trainings, sollten sie die Rollen tauschen: Der Berater begibt sich in eine zurückgenommene, unterwürfige Position und überlässt dem Klienten weitgehend die Expertenrolle. Nun darf der Klient seine Dominanz aus der Kenntnis und Kompetenz seines ureigenen Anliegens ausspielen. Mit dem Rückzug des Beraters aus einer starken Machtposition stärkt er die Motivation und Kooperationsbereitschaft des Klienten. Im lösungsfokussierten Modell führt der Berater den Klienten lediglich prozessmethodisch und lässt ihn eigene individuelle Lösungsansätze finden und ausprobieren.

Die „Klagenden“ sind eher im dritten Quadranten verortet: abweisend/unterwürfig und anfangs unkooperativ; manchmal mit einer Tendenz zu dominantem Auftreten. Besucher und Co-Moderatoren finden wir mehrheitlich in Quadrant zwei. Sie fühlen sich in der Regel überlegen und arbeiten dem Berater eingangs weniger in die Hand. Hier muss der Berater behutsam zwischen oben und unten auf der Machtachse pendeln und wenn Aussicht auf eine therapeutische Allianz besteht, in die freundlich-unterwürfige Position wechseln.

Wenn Sie Seminare geben, Coachings anbieten oder therapeutisch unterwegs sind: Versuchen Sie einmal, Ihre Teilnehmer oder Klienten im Diagramm zu verorten und probieren Sie gern die Positionen wie oben beschrieben aus.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren

© Wolfgang Schiele 2019, überarbeitet 2023 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de