Wenn man vom „Drei-Instanzen-Modell“ der Psyche von Siegmund Freud ausgeht, dann befindet sich das ICH, unser Verstand, im Spannungsfeld unseres ES, das dem Lustprinzip folgt, und unseres ÜBER-ICHs, das als moralische Instanz arbeitet. Um in diesem Zwiespalt, diesem Kontrast, eine reelle Überlebenschance zu haben, hat sich unser Gehirn Kompensations- und Bewältigungsmechanismen zugelegt, die innerseelische und zwischenmenschliche Konflikte verarbeiten können. Es ist wohl Anna Freud, der Tochter des großen Psychoanalytikers zu verdanken, dass wir heute über eine umfangreiche Vielfalt von gut beschriebenen und alltagstauglichen Abwehrmechanismen verfügen, die verständlich und einleuchtend sind.

In loser Folge versuche ich – belegt u. a. durch Alltagsbeispiele – die jeweiligen Abwehrmechanismen zu erläutern. Manche kommen auf uns zu in milder Ausprägung. Ab und an treten sie aber auch in krankhafter, paranoider Form auf. Dann sind sie zwingend behandlungsbedürftig. Grundsätzlich gilt: Das gleiche Verhalten kann mal das eine, mal das andere sein. Entscheiden kann man nur, wenn man die Details der jeweiligen Situation beachtet und das Motiv, das hinter dem Verhalten steckt, erkennt.

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PSYCHOSOZIALE ABWEHR
Das Wesen der psychosozialen Abwehr liegt darin, dass Menschen das eigene Versagen oder Fehlverhalten dritten Personen oder Gruppen von Personen zuordnen. Diese Gruppen oder Personen dienen als Schutzschild für soziale Tabubrüche und sogar kriminelles Verhalten. Sie werden mit dem Ziel der intraseelischen Abwehr schuldig gesprochen nach dem Motto: „Das war ich nicht, das waren die anderen!“

Es verwundert daher nicht, dass sich Personen bestimmten Gruppen anschließen, aus denen heraus sie weitgehend anonym Pflichtverletzungen, Verfehlungen und Unrecht begehen können. Die Gruppenzugehörigkeit dient entweder als Alibi, Schutzfunktion oder Deckmantel für eigene unmoralische Verhaltensweisen. Man bleibt entweder unerkannt oder spricht im Zweifel der gesamten Gruppe, und nicht sich selbst als Mitglied der Gruppe, die Schuld zu.

Aus der Geschichte des jüdischen Volkes kennen wir z. B. die Metapher des „Sündenbocks“. Er wird stellvertretend und gleichsam wie ein Symbol der psychosozialen Abwehr für die Schuld, das Unrecht und die Vergehen der gesamten Gruppe (und damit auch jedes einzelnen Gruppenmitglieds) in die Wüste geschickt – schwer bepackt mit den Lasten und Lastern all derer, die sich auf diesem Wege davon befreien wollen.

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REAKTIONSBILDUNG
Bei der Reaktionsbildung werden aggressive Gefühle, unanständige Motive oder heftige Impulse gegen einen Menschen durch entgegengesetztes Verhalten oder asymmetrische Emotionen niedergehalten. Nichtakzeptierte und kritisierte Erlebnisinhalte werden überkompensiert und ins Gegenteil verdreht. Unfreundliche, verächtliche, ja selbst zerstörerische Affekte werden durch gegenläufiges Verhalten überdeckt und unterdrückt.

Obwohl die Ehefrau ihren Gatten nicht ausstehen kann, weil er sie kurz hält, lobt sie ihn vor Gästen und Freunden als vorbildlichen Familienvorstand. Die unbewusste Ablehnung des Mannes wird vom Bewusstsein ferngehalten. Oder: Am liebsten würde man seinem Mitarbeiter die Kündigung in die Hand drücken (weil er kompetenter als der Chef ist …), aber man lobt für seine Arbeit eine Prämie aus. Oder: Es wird lieber Mitleid geheuchelt, wenn es gefährlich sein könnte, Liebesgefühle zu äußern.

Die Übergänge zwischen automatisierter, unbewusster Gewohnheit und willkürlicher Absicht sind fließend. Impulse, die der Mensch regelmäßig durch ihr Gegenteil überdeckt, werden mehr und mehr ins Unbewusste abgedrängt. „Der Freundliche weiß nichts mehr von seiner Wut, der Kühle nichts mehr von seiner Lust und der Fromme nichts mehr von seiner Bosheit.“(Michael Depner)

Die nächsten beiden Abwehrmechanismen, über die ich praxisbezogen im nächsten Themenbeitrag schreiben werde, sind das UNGESCHEHENMACHEN und die KONVERSION (SOMATISIERUNG). Wer den Startbeitrag lesen möchte – hier geht es lang: https://wp.me/p7Pnay-2rp. Und den Beitrag über PROJEKTION und VERDRÄNGUNG finden Sie hier: https://wp.me/p7Pnay-2rY.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße

Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für Senioren

© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de