
Wenn man vom „Drei-Instanzen-Modell“ der Psyche von Siegmund Freud ausgeht, dann befindet sich das ICH, unser Verstand, im Spannungsfeld unseres ES, das dem Lustprinzip folgt, und unseres ÜBER-ICHs, das als moralische Instanz arbeitet. Um in diesem Zwiespalt, diesem Kontrast, eine reelle Überlebenschance zu haben, hat sich unser Gehirn Kompensations- und Bewältigungsmechanismen zugelegt, die innerseelische und zwischenmenschliche Konflikte verarbeiten können. Es ist wohl Anna Freud, der Tochter des großen Psychoanalytikers zu verdanken, dass wir heute über eine umfangreiche Vielfalt von gut beschriebenen und alltagstauglichen Abwehrmechanismen verfügen, die verständlich und einleuchtend sind.
In loser Folge versuche ich – belegt u. a. durch Alltagsbeispiele – die jeweiligen Abwehrmechanismen zu erläutern. Manche kommen auf uns zu in milder Ausprägung. Ab und an treten sie aber auch in krankhafter, paranoider Form auf. Dann sind sie zwingend behandlungsbedürftig. Grundsätzlich gilt: Das gleiche Verhalten kann mal das eine, mal das andere sein. Entscheiden kann man nur, wenn man die Details der jeweiligen Situation beachtet und das Motiv, das hinter dem Verhalten steckt, erkennt.

UNGESCHEHENMACHEN
Entstehen nach einem sozialen Fehlverhalten moralische oder ethische Bedenken oder Ängste, weil man anderen möglicherweise einen Schaden oder Verluste zugefügt hat, dann kann es sein, dass man man die Gefahr nachträglich bannen oder Leid ausgleichen will. Um den Druck zu mindern oder die Bedrohung zurückzunehmen, werden Sühne- und Reinigungsverfahren gesucht, die sich in (meist unwirksamen) Ritualen zeigen. Oder es wird eine Ersatzhandlung vorgenommen, die das Getane neutralisieren oder ungeschehen machen soll.
So klopfen wir etwa auf Holz, um eine Verbotsübertretung zu kompensieren, pfeifen die Sorgen weg oder spenden eine Summe Geldes, um uns symbolisch von Strafe freizukaufen. „Wenn ich jetzt bis sieben zähle und laut huste, dann wird mich niemand bestrafen.“ Oder: „Ich gelobe feierlich, in den nächsten Wochen auf Alkohol zu verzichten, damit der gefürchtete Brief vom Finanzamt nicht bei mir ankommt.“
Rituale werden oft mit magischen Vorstellungen und metaphysischem Glauben verbunden, die allerdings in ihrer zeitlichen Wirkung nachlassen und immer öfter wiederholt werden müssen, um aufkommende Schuldangst zu bekämpfen und den Strafabwendungsmechanismus neu zu starten. Das Dilemma besteht jedoch darin, dass sich die Realität durch Symbolhandlungen nicht abschließend aufhalten lässt …

KONVERSION (SOMATISIERUNG)
Der Begriff wurde ursprünglich geprägt durch Siegmund Freud, der herausfand, dass eine seelische Belastung zu körperlichen, somatischen Beschwerden führen kann, ohne dass ein primärer körperlicher Befund vorliegen muss. Ein psychischer Konflikt wird umgelagert in ein körperliches Symptom, wie z. B. Taubheit, Blindheit oder Stummsein. Die Körperreaktion als symbolische Manifestation einer intensiven seelischen Auseinandersetzung.
Bewegungs- und Empfindungsstörungen sind häufige Erscheinungen, die auf ein seelisches Dilemma zurückzuführen sind. Zum Beispiel: Jemand wurde wegen seiner inakzeptablen Arbeitsleistungen schwer gedemütigt. Am nächsten Tag kann er seine Beine nicht mehr bewegen und erscheint nicht mehr auf der Arbeit. Eine Frau spricht einem Mann seine Liebesfähigkeit ab. Nach einigen Stunden fühlt sich seine Körperoberfläche taub und gefühllos an. Oder: Ein Angeklagter wird vom Staatsanwalt schwerster Verbrechen bezichtigt, die er nicht begangen hat. Es kommt bei ihm zu einem Stimmverlust – er kann sich nicht mehr verteidigen.
Im Unterschied zur Konversion, bei der es einen kausalen Zusammenhang zwischen der psychischen Belastung und der Körperreaktion gibt, liegt bei der Somatisierung ein solcher Wirkmechanismus nicht vor. Die seelische Belastung manifestiert sich hier als Störung des vegetativen Nervensystems und betrifft vorwiegend die Funktion innerer Organe.
Die nächsten beiden Abwehrmechanismen, über die ich praxisbezogen im nächsten Themenbeitrag schreiben werde, sind die IDENTIFIKATION (mit dem Aggressor) und die VERLEUGNUNG.
Wer den Startbeitrag lesen möchte – hier geht es lang: https://wp.me/p7Pnay-2rp. Und den Beitrag über PROJEKTION und VERDRÄNGUNG finden Sie hier: https://wp.me/p7Pnay-2rY. Zur PSYCHOSOZIALEN ABWEHR und zur REAKTIONSBILDUNG folgen Sie bitte diesem Link: https://wp.me/p7Pnay-2sJ.
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße
Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für Senioren
© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de
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