Collage: Pixabay

Die Zahl der Trennungen vom Lebenspartner, mit dem man bereits 30 Jahre und mehr zusammengelebt hat, hat sich in den vergangenen 40 Jahren mehr als verdoppelt. Nach einem statistischen Trennungshöhepunkt im vierten gemeinsamen Jahr folgt etwa um den Silberhochzeitstag die nächste Scheidungswelle, und selbst kurz nach der Goldenen ist ein weiteres Trennungsmaximum zu verzeichnen.

Warum ist das so?

Zum einen haben wir erkannt, dass vor uns auch nach sehr vielen Lebensjahren noch ein langer Zeitraum liegt, in dem wir uns Wünsche und Träume erfüllen können. Da werden womöglich völlig neue Erwartungen an das Leben entdeckt, die vorher nicht vorhanden schienen: nach persönlichem Freiraum, neuer Kreativität und autonomer Entwicklung. All das vor dem Hintergrund, dass wir den Verlust der Beschäftigung mit neuen Inhalten füllen möchten – und auch können! Viele Vertreter der (Vor-)Ruhestandsgeneration bemerken in ihren tiefsten Inneren eine seltsame Unruhe vor dem sich vollendenden Leben und geraten in eine Art Endzeitstimmung oder gar Panik, die sie zu neuer Selbstbestätigung und zur Suche nach angeblich Verpasstem veranlassen.

Andererseits können wir nun als reife, erwachsene, in der Regel materiell gut abgesicherte und vor allem von der Lohnarbeit freie Menschen aus dem Korsett der überholten Konventionen, Zwänge und Restriktionen ausbrechen. Aus Loyalitätsbindungen zu Eltern und Verwandten, an deren Wertewelt und Glaubenssätzen wir lange hingen und/oder uns aus Scham- oder Schuldgefühlen heraus nicht trauten, zu handeln. Jetzt, im fortgeschrittenen Alter wird dies möglich – auch, weil die Eltern und etliche Verwandte bereits verstorben sind und keine Rechtfertigung von uns einfordern können.

Wie Psychologen festgestellt haben, wollen sich Frauen im reifen Alter noch einmal beweisen. Ihre Autonomiebestrebungen sind inhaltlich klarer gefasst und sie verfügen in aller Regel über ein größeres und engmaschigeres außerberufliches, soziales Netzwerk als die Männer. Diese geben mit der Trennung von ihrer beruflichen Funktion meist auch ihr komplettes soziales Netzwerk ab. Sie sind nach dieser engen Liaison mit Beruf und Unternehmen oftmals verunsichert und finden „plötzlich“ in der häuslichen Umgebung eine selbstbewusste Frau vor, ganz nach dem Motto: „Entberuflichter, kuschelbedürftiger Mann trifft auf weltoffene, nach Autonomie strebende Frau.“

Foto: Pixabay

Was tun?

Wenn Sie für die dritte Lebenshälfte Pläne schmieden und Projekte entwerfen, dann besprechen Sie sie unbedingt mit Ihrem Partner und den engsten Familienmitgliedern. Denn vielleicht bedarf Ihr „Ruhestandsprojekt“, Ihr neues Abenteuer, Ihr zukünftiges Hobby der Akzeptanz Ihres Umfeldes! Nennen wir es den „Ökocheck“ – das frühe Einholen möglicher Reaktionen auf Ihre Pläne und Sehnsüchte. Denn manch einer in Ihrem familiären Umfeld ist womöglich sehr erstaunt über die Ideen und Einfälle, die reife Menschen im fortgeschrittenen Alter noch entwickeln können!

Bedenken Sie auch die Zeitpunkte des Austritts von zwei Partnern aus dem Berufsleben. Das kann für die weitere Gestaltung der Beziehung ausschlaggebend sein. Gehen beide etwa zeitgleich in Rente oder Pension oder um Jahre zeitversetzt? Davon hängt ab, wie nachhaltig der oder die früher Verrentete seine oder ihre neue(n) Rolle(n) und soziale(n) Position(en) im häuslichen Umfeld aufbaut und welche Zuständigkeits- und Nichtverantwortungsbereiche er oder sie absteckt. Was bleibt dem/der anderen? Wo kann es Überschneidungen geben? Welche Bereiche werden von keinem abgedeckt? Wer nimmt womöglich dem oder der anderen eine Aufgabe weg, besetzt eine Rolle, die der oder die andere bereits seit längerem für sich beansprucht? Hier liegt sehr viel Konfliktpotenzial, das immer häufiger zu späten Trennungen führen kann.

Eine weitere wichtige Frage ist: Wie ändern sich die „Machtverhältnisse“ im neuen Dauerumfeld nach dem Berufsleben? Wer bringt seine „Rollenansprüche“ mit nach Hause und versucht sie auf das Familienleben zu adaptieren? Wer ist dominant und wer soll sich unterordnen? Wie also sieht die „neue soziale Hierarchieordnung“ in der nun auf engem Raum – aber sich rund um die Uhr – abspielenden Partnerschaft aus? In weniger kommunikativen Beziehungen sind Konflikte und Ausbrüche aus der langjährigen häuslichen Gemeinschaft vorprogrammiert.

Wenn wir aus der gefühlsgebremsten, rational dominierten Alltagswelt des Berufes in den Ruhestand treten, dann durchleben wir einschneidende Veränderungen. Wir verlassen schlagartig die Sachorientiertheit des Berufsalltages, dessen bedingungslose Determiniertheit. An dessen Stelle tritt die noch unbekannte Welt der strukturellen Unschärfen mit all ihren Überraschungen, insbesondere emotionaler Art, auf die wir in den meisten Fällen noch gar nicht vorbereitet sind. Denn wir konnten Ruhestand nirgends üben und aus Fehlern lernen. Vor allem wohl die Männer: Sie sind dann gezwungen, den weitgehend strukturlosen, bisher unbekannten Lebensraum zu füllen – nicht nur mit materiellen Werten, neuen Zielen und praktischen Vorhaben. Sie sind gefordert, das offene „Gelände der emotionalen Sprachlosigkeit“ mit gefühlsgetriebenen Ideen und eher sachentkoppelt zu gestalten (und damit manchmal überfordert). Dazu bedarf es eines neuen Umgangs mit dem Beziehungspartner. Nur der ständige Austausch über die jeweils neu gemachten Erfahrungen und Entdeckungen im nun reifen, berufslosen Alter sowie die Neukalibrierung der Partnerschaft sind zielführend.

Foto: Pixabay

Mein Tipp an dieser Stelle lautet: Räumen Sie sich gegenseitig die Möglichkeit für den Aufbau räumlicher und geistiges Distanz ein, den „Spielraum“ (im wortwörtlichen Sinne!) für das ureigene Ausleben von Hobbies und Beschäftigungen sowie Zeit für Phasen innerer Reflektion auf das eigene Ich und die Partnerschaft. Sorgen Sie gleichzeitig aber auch für gemeinsames Erleben und Nähe, für Zusammensein und emotionalen Austausch. In einem ausgewogenen Wechselverhältnis von Entfernung und Annäherung, von Freiheit und Verbundenheit liegt der Königsweg eines gemeinsamen, erfüllenden und sinnvollen Ruhestandes. Der dann nicht mit später Trennung enden muss.

Und noch ein weiterer Tipp: Begründen Sie Rituale! Bauen Sie zu bestimmten Anlässen ganz individuelle, besondere Handlungen und Überraschungen in Ihr Leben ein, die Ihnen gemeinsam Spaß machen und die ggf. auch an bestimmte sich wiederholende Zeiten gebunden sind. Ziehen Sie mit der Ausgestaltung von kreativen Ritualen strukturelle Tragepfeiler in Ihre „Haus Ruhestand“ ein! Schaffen Sie Leuchttürme sinnlicher Erfahrung, erfreuen Sie sich an den gemeinsamen Symbolen der Beziehung und feiern Sie die Erfolge des anderen! Wenn Sie sich mit einem hohen Maß an Wertschätzung und Achtsamkeit begegnen, wenn Ihnen der Wandel in den sozialen Rollen und Zuständigkeiten gelingt und wenn Sie lernfähig und flexibel in Ihren Freiheiten und Verbindlichkeiten bleiben, ist eine späte Trennung eher unwahrscheinlich.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße

Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für Senioren

© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de