Foto: Wolfgang Schiele

Über den Zusammenhang von Lebensglück und Sinn im Leben habe ich bereits in meinem ersten Buch etwas geschrieben: „… Sinn bewegt sich auf einer höheren Abstraktionsstufe als Glück. Das Glück ist flüchtiger und drückt aus, was uns gegenwärtig wichtig ist und erfolgreich macht. Der Sinn beantwortet die Frage nach einer langfristigen, dem Großen und Ganzen untergeordneten, und dennoch individuellen Bestimmung …“ .

In meinem zweiten Buch gibt es ein Kapitel, das sich mit der Verlaufskurve des Lebensglücks befasst. Dabei besteht wiederum eine intensive Beziehung zwischen dem Glück und dem Sinn. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich unsere Zufriedenheit über alle Lebensphasen hinweg U-förmig entwickelt. In der Jugend und im frühen Erwachsenenalter steigt die Glückskurve stark an und erreicht ihr Maximum im Alter so um die 25 Jahre. Dann, im Berufsleben, etwa mit Ende 40, Anfang 50, durchschreiten wir einen Tiefpunkt, um mit dem Eintritt in die Rente wieder glücklicher und zufriedener zu werden (wer mehr über die „Zufriedenheitskurve“ erfahren möchte, lese meinen Blogbeitrag „Die Alten – eine Generation U?“ unter https://wp.me/p7Pnay-3po). Wie am Anfang des „U“ gibt es auch am Schluss des „U“ noch einen Schlenker, der dieses Mal nach unten weist – das Glücksgefühl nimmt merklich ab, weil uns in der finalen Lebensphase Krankheiten und Gebrechen rat- und mutlos machen.

Was passiert in diesem Stadium eigentlich mit dem Sinn? Endet an dieser Stelle der Sinn oder transformiert er sich vom bisher gefundenen (soweit zutreffend) in einen anderen? Geht der Glaube daran, dass unsere temporäre Sinnfindung uns im reifen Erwachsenenalter motiviert und beflügelt hat, etwa verloren? War der empfundene Sinn nur eine Illusion und nicht auf Dauer angelegt? Trifft genau das zu, was der US-amerikanische Psychotherapeut Irvin Yalom einmal gesagt hat:

Erfinde einen Sinn, der stabil genug ist, um als Fundament des Lebens zu dienen, und vollziehe dann das knifflige Manöver, die eigene Urheberschaft an diesem Sinn zu leugnen.“

Foto: Wolfgang Schiele

Ich komme mit meinen 68 Lenzen immer mehr zu der Auffassung, dass ich meinen Lebenssinn in den vergangenen 15 Jahren gefunden hätte – und jetzt getrost auch ohne Streben nach neuer Sinnerfüllung durch den Rest des Lebens gehen kann. Sozusagen als „existenziell Indifferenter“, wie die deutsche Professorin Tatjana Schnell, die in Innsbruck zu Glück und Sinn forscht und lehrt, sinnfreie, aber zufriedene Menschen bezeichnet. Die Zeit meiner mittleren Reife war eine Phase, in der ich mich sowohl meinen offenen, aber auch verdeckten Strebungen und Interessen vollständig hingegeben habe und meine Bedürfnisse selbstbestimmt und zielstrebig befriedigen konnte. Nach meiner Befreiung von unselbstständiger Arbeit und durch die Selbstverwirklichung als freitätiger Freelancer fand ich mich dort wieder, wo ich meinen Platz in der Welt lange unterschwellig schon verortet und verspürt hatte: Als ständig Lernender, als Vermittler von Wissen und als Verbreiter von psychologischen Selbsterkenntnissen. Der Sinn manifestierte sich für mich über viele Jahre im Verspüren von Zweckhaftigkeit, persönlicher Selbstwirksamkeit sowie externer Anerkennung und bildete einen scharfen Kontrast zur davorliegenden Zeit als Arbeitnehmer.

Jetzt stehe ich an der Schwelle zu einer Phase, in der ich ein bewusstes Sinnstreben nicht mehr benötige. Ich habe in meinem Alter alle wichtigen Entscheidungen meines Lebens längst getroffen und deren Ergebnisse entweder hingenommen, akzeptiert oder ausgekostet. Ich kann zukünftig auf die gezielte Weitergabe von Wissen, den zustimmenden Beifall nach Seminaren oder die Befriedigung über eine gelungene Präsentation verzichten, ohne durch diese „Verluste“ oder Einschränkungen unglücklicher oder unzufriedener zu sein. Ohne Sinnzwang zu leben heißt auch, sich innerlich befreit zu haben von einer Bürde; denn auch das kann sie sein, die Suche und das Streben nach dem Sinn im Leben.

Ich habe all das erreicht, was ich konnte und wollte, und ich würde, wenn morgen mein letzter Tag wäre oder die Welt an einer Katastrophe zugrunde ginge, ruhig und gelassen Abschied nehmen können. Vielleicht liegt das Geheimnis einer erfüllten Lebens gerade darin, dass man nicht auf die späte Sinnphase wartet, denn in dieser sind Körper, Geist und Seele vielleicht nicht mehr vollständig in der Lage, ihre Mission und Rolle auf dieser Erde genüsslich auszuleben. Sondern sie vorverlegt in einen Lebensabschnitt, auf den man vom hohen Lebensalter aus zurückschauen kann, ohne unerreichten Sehnsüchten und klaffenden Sinnlücken nachtrauern zu müssen. Wie von einem Aussichtspunkt, der eine tiefenentspannte, teils überlegene, teils demütige Gesamtreflexion ermöglicht.

In Corona-Zeiten würde man sagen: Nicht hinter der Welle sein, sondern vor die Welle kommen, zählt! In puncto Sinn glaube ich, dieses Ziel erreicht zu haben. Also ich habe ihn gesucht, gefunden und ausgelebt, den Lebenssinn, und kann ihn nun getrost als wertvolles Etappenziel ins Archiv packen.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

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