
Die drohende Überlastung unseres Gesundheitswesens und insbesondere der Krankenhäuser ist mittlerweile ein Dauerbrenner in den Medien. Auch die Wochenzeitung DIE ZEIT schaltet sich in ihrer Ausgabe N° 49 in die Diskussion ein. Um den Zusammenbruch eines der angeblich besten Gesundheitssysteme der Welt zu verhindern, waren die gravierendsten Eingriffe in die freiheitlichen Rechte der Deutschen erforderlich, die es seit dem 2. Weltkrieg gab. Man darf jedoch bei aller Kritik an den temporären (Un-)Verhältnismäßigkeiten der Maßnahmen nie vergessen, dass das höchste Ziel menschlicher Freiheit der Erhalt des Lebens ist. Dem sollte sich alles unterordnen. Und das ist keinesfalls nur eine Frage der Mediziner und des Gesundheitswesens an sich.
Im Kern ging es darum, Triagen zu vermeiden – ein Ausleseverfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistungen. Es gab wohl seit Kriegszeiten keine größere logistische und medizinische Herausforderung an die Beteiligten – allen voran Mediziner, Schwestern, Pfleger und technische Hilfskräfte. Doch gerade deshalb verwundert es, dass genau in den Phasen der höchsten Hospitalisierungsraten die Zählsysteme der Intensivbehandlungsplätze mehrfach geändert wurden und auf wundersame Weise eine absolute Verringerung der Intensivbetten eintrat, die nicht mit dem Abgang von Pflegekräften in Verbindung stand. Verschiedene Erklärungsversuche der Intensivmediziner des DIVI und der Politik waren nicht nur für mich wenig oder gar nicht nachvollziehbar. Wobei sich im Grundrauschen der Kommentare immer wieder der Vorwurf fand, es ginge ums Bereitstellungsgeld für Corona-Betten und den immensen Druck auf die Wirtschaftlichkeit der Krankenhäuser in Pandemiezeiten.
Das einleitend. Denn im Grunde geht es um die Frage, wer einen lebensrettenden Behandlungsanspruch haben soll und wer im Zweifel zum Sterben verurteilt sei. Einen verbindlichen Rechtsrahmen für oder gegen eine medizinische Versorgung und Betreuung von Schwer(st)kranken gibt es bis heute in Deutschland nicht. Die bisherige Politik sträubte sich bewusst davor, Vorrangregeln aufzustellen und hielt diese sogar für verfassungswidrig. Nun hat das Bundesverfassungsgericht (das eigentlich besser Bundesgrundgesetzgericht heißen müsste, denn das zentrale Rechtsdokument ist qualitativ einer staatlichen Verfassung nicht wirklich ebenbürtig und zudem in meinen Augen weitgehend obsolet und hat leider in den Wendezeiten die Gunst der Stunde fahrlässig, wenn nicht sogar vorsätzlich verschlafen – aber das ist schon wieder ein anderes Thema …) der Beschwerde von Behinderten stattgegeben, die ihre Position in Pandemie- und Intensivbettenengpasszeiten geklärt haben möchten. Eine konkrete Regelung hat das Gericht nicht getroffen, aber der Exekutive den Eilauftrag erteilt, für das Rechtsgut Leben verpflichtende Regelungen zu treffen. Es gehe um den Schutz und die Gleichbehandlung von Behinderten in medizinischen Krisenzeiten. Nun steckt die Politik in dem Dilemma, das sie gerade verhindern wollte: Neben den sich in den letzten 300 Jahren kontinuierlich verfeinernden medizinischen Richtlinien und Scoringsystemen, die z. B. über Leben und Tod im Feld entschieden, muss sie eine ethisch vertretbare, strafrechtlich saubere und evolutionsbiologisch nachvollziehbare Vorgabe machen.

„Gott würfelt nicht!“, soll Albert Einstein einmal gesagt haben. Kein Menschenleben ist mehr oder weniger wert als ein anderes. Wenn man sich diesen ethischen Grundsatz zur Richtschnur allen Handelns macht, dann kann es kaum eine menschliche Entscheidung geben, die im Ernstfall „richtig“ ist. Sollen die Menschen überleben, deren Heilungs- und Genesungschancen am größten sind? Will man den Fortbestand der Stärkeren zur Stabilisierung und für den Erhalt der Menschheit sichern und dafür die Schwachen „opfern“? Ist die Maximierung der Robustesten in einem Staatswesen eine Legitimation für die Abkehr von denen mit einem schlechten Überlebenspunktestand? Schon das Transplantationsgesetz sieht von einer prozentualen Abwägung von Erfolgswahrscheinlichkeiten ab, weil das die gesünderen Menschen zu wertvolleren Mitgliedern der Gesellschaft machen würde und damit nicht verfassungskonform wäre. Und auch umgekehrt wird nicht wirklich ein Schuh draus, weil sich dann der Staat bewusst gegen diejenigen stellt, die ihn wirtschaftlich und sozial tragen und dann ihren höheren solidarischen Anteil am Gemeinwesen nicht mehr einbringen könnten. Und was geschieht bei vergleichbaren Punktekonten und Überlebenschancen …? Fragen über Fragen und ohne wirkliche Antworten.
Offensichtlich wird sowohl der Mensch als auch sein Wertesystem zwickmühlenhaft auf das Äußerste überfordert. Die klassischen Dilemmata (wie z. B. der beabsichtigte Abschuss eines vollbesetzten Passagierflugzeuges, das von Terroristen als Waffe gegen eine Stadt benutzt wird) potenzieren sich geradezu dann, wenn pandemische Ereignisse zu massenhaften Entscheidungen zwingen. Der einzige Ausweg wäre das Zufallsprinzip, das den Menschen weitgehend von moralischen Bedenken entbinden könnte. So argumentiert beispielsweise der Professor für Strafrecht Tonio Walter, der einen Beitrag in der ZEIT dazu veröffentlicht hat. Im Zusammenhang mit einer klaren zeitlichen und zufallsgleichen Nummerierung der eingelieferten Fälle sollte eine unumgängliche Triage rechtlich und weitgehend moralisch vertretbar sein können. Er schreibt: „Die Überlebenschance darf dabei nur eine Vorentscheidung beeinflussen: Erst wenn sie auf praktisch null gesunken ist, darf sie dazu führen, einen Patienten aus der Triage herauszunehmen und ausschließlich palliativ zu behandeln.“ Doch Mediziner werden ihm wohl widersprechen, weil ihnen der Eid des Hippokrates wichtiger ist und die medizinische Chancenungleichheit damit nicht zu Ende gedacht ist.
Was meinen Sie? Wie kann der Mensch in derartigen Zwangs- und Zwickmühlensituationen sein Gesicht wahren und dabei rechtlich und moralisch akzeptabel handeln? Gibt es gangbare alternative Lösungen, die den humanistischen Grundideen entsprechen könnten?
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!
Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2021 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de
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