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Wenn man für sich und seine Seminare in der Öffentlichkeit wirbt, dann versucht man, mit möglichst zugkräftigen und marketingwirksamen Titeln und Aufmachern die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und Kunden zu gewinnen …

Nun führe ich neben allgemein zugänglichen Angeboten aber auch Workshops in Unternehmen durch, die ihre zukünftigen Ruheständler auf die Risiken und Chancen der nächsten Rentnerzeit vorbereiten sollen. Was ich als sehr mitarbeiterorientiert und wertschätzend empfinde. So weit, so gut. Nun hatte ich in meine Moderation diesen öffentlich verwendeten Marketingslogan „Challenge Ruhestand – vom Gelingen der dritten Lebenshälfte“ mit in die Seminargestaltung einbezogen. Und erntete sofort einen harschen Protest von der Teilnehmerbank. „Herr Schiele, ich bitte Sie, es gibt keine dritte Lebenshälfte, wir haben nur zwei und dann ist Schluss!“

Mir war in diesem Moment klar, dass der rational denkende Ingenieur logisch nicht zu widerlegen war und zu Recht Protest einlegte. Doch ich unternahm einen Erklärungsversuch. „Ich hatte Ihnen gerade dargelegt, dass sich seit dem Beginn des 20. Jahrhundert auf der einen Seite unsere Lebenserwartung um Jahrzehnte verlängert hat und andererseits der Austritt aus dem Beruf immer zeitiger erfolgt. Daraus resultiert, dass wir ein Zeitfenster von etwa 20 Jahren für den Ruhestand gewonnen haben, das den vorangegangenen Generationen noch gar nicht zur Verfügung stand. Das ist faktisch geschenkte Lebenszeit, eine dritte Lebenszeit, die ich plakativ und als positive Aussicht für die Zeit nach dem Beruf die dritte Lebenshälfte nennen möchte.“

Es nutzte nichts. Mein kognitiv aufgestellter Teilnehmer ermahnte die übrigen Anwesenden und mich zu mathematischer Korrektheit und bestand nachdrücklich auf „zwei Hälften“. Als Kompromiss bot er mir noch „das dritte Drittel“ an – das wäre doch wohl ein annehmbarer Vorschlag, da könne er mitgehen. Ich willigte ein, vermied jedoch in der weiteren Folge erneute mathematische Rechenspielchen und wich auf Begriffe, wie „Späte Freiheit“ und andere, rechnerisch einwandfreie, aus.

Meine Seminare enden meist mit einem kleinen Projekt, bei dem die Teilnehmer ihre Kreativität unter Beweis stellen können. Dieses Mal ging es um die Gestaltung einer Collage aus Text- und Bildausschnitten. Dazu hatte ich etwa dreißig verschiedene Zeitschriften im Gepäck und wollte diese eben auf einem Tisch ausbreiten, als mir auf einer der Titelseiten eine Unterüberschrift ins Auge fiel: „Das Magazin für die dritte Lebenshälfte“. „Hier, ein offizielles Presseerzeugnis!“, sagte ich in Richtung des rational denkenden Ingenieurs und bewegte mich schnellen Schrittes in seine Richtung, „schauen Sie genau hin und lesen Sie bitte vor!“ Und widerwillig – sowie unter dem Geschmunzel der anderen Teilnehmer – las der Ingenieur etwas unsicher, aber mutig, die angeforderte Zeile vor … und konnte sich dabei ein leises Lächeln nicht verkneifen …

Ich hatte zufällig die richtige Respektsinstanz gefunden! „Na bitte“, sagte ich mir innerlich, „geht doch, damit hast Du die Legitimation für die „dritte Lebenshälfte“ gefunden und kannst sie auch zukünftig in deinen Seminaren verwenden. Musst nur aufpassen, dass du die Zeitschrift immer mit einpackst und dir genau merkst, wo du sie im Protestfall schnell findest …“

Ihr (Vor)Ruhestandscoach Wolfgang Schiele

© Wolfgang Schiele 2016 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de