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Der Alltag ist voller Überraschungen. Und kann manchmal anstrengend sein, wenn er mit den Zeitgenossen der eigenen Generation einhergeht. Vor allem im Vorfeld von Kaufhallen …

Neulich im Supermarkt: der volle Parkplatz vor meinem Lieblingsmarkt ließ nichts Gutes ahnen – der Freitagnachmittag schien der einzige Tag zu sein, an dem alle Welt auf einmal und sehr ausführlich einkaufen geht. Insbesondere die Ruheständler, die offenbar auf gerade diesen Nachmittag gewartet hatten, um ihren großen Einkaufscoup zu landen. Ich hoffte auf ein ausparkendes Auto und schnell genug zu sein, im Wettbewerb um einen begehrten Stellplatz den Sieg davon zu tragen. Aber der Ausparkprozess zog sich in die Länge – auch, weil die Lücke eng bemessen und der Verkehr vor und hinter den Fahrzeugen einfach nicht abreißen wollte. Endlich gelang es dem offensichtlich betagten Herrn, sein Gefährt in einem atemberaubenden, dennoch kratzerfreien, aber für mich Nerv tötenden Manöver aus der Enge der Fahrzeugreihe herauszubugsieren. Endlich, der Einkauf konnte seinen Anfang nehmen!

Aber die Wagenremise war leer! Kein Ein-Eurowagen zu sehen. Dafür hingen – sichtlich entspannt – zwei ältere Damen mit dem Oberkörper über zwei Wagenschubstangen und unterhielten sich über Gott und die Welt. Ohne sich um den brodelnden Menschenstrom, inmitten dessen sie sich an exponierter Stelle im Wege befanden, zu scheren oder auf die Idee zu kommen, ihre Wagen zu leeren und sie der suchenden Gemeinde zur Verfügung zu stellen. Meine Augen blickten verzweifelt auf eine Gruppe Senioren, die hinter ihren vollgeladenen Einkaufswagen in eine etwas lautere und energische Unterhaltung verwickelt war. Ich bekam mit, dass es sich um einen Erfahrungsaustausch über eine hartnäckige Krankheit handelte, von deren Heilung alle bisher konsultierten Ärzte angeblich nicht viel verstünden. Zwar konnte ich einen ersten Eindruck über die möglichen Fehldiagnosen bei Unterleibsstörungen von betagten Männern mitnehmen, aber die Aussicht auf einem Wagen wurde dadurch nicht wahrscheinlicher. Weiter hinten, in der Nähe diverser separater Verkaufsstände, wurde ich Zeuge einer emotional geführten Diskussion über einen unausstehlichen Nachbarn und die angedachten Strafmaßnahmen gegen ihn. Noch ein Stück weiter, auf meiner verzweifelten Suche nach einem Einkaufsgefährt, musste ich das Wehklagen über die verlorenen Werte und Sichtweisen unserer Jugend zur Kenntnis nehmen. Alles nach dem Motto: Ein Leiden ist schon halb geheilt, hat man es den anderen mitgeteilt …

Fast glaubte ich schon an ein Einkaufsboykott gegen mich, als mir eine junge Frau ihren Wagen gegen Entrichtung eines Euros anbot. In der Hoffnung darauf, einen vergleichbaren Euro im Koppelfach des Wagens wiederzufinden, ging ich auf den Deal ein und griff seufzend und erleichternd zu. Dann nahm ich die nächste Etappe in Angriff. Sie gestaltete sich nicht weniger schwierig. Die mobile Generation der mehrheitlich älteren Kaufwilligen bildeten an allen möglichen und unmöglichen Plätzen des Vorverkaufsraumes etliche Gesprächsknäuel: vor dem Flaschenrückgabeautomaten, an der Kundeninformation und vor den beiden Packtischen. Perfekt zugestellt waren alle wichtigen Brennpunkte von öffentlichem Einkaufsinteresse. Ebenso der Fahrweg zum Eingangsbereich. Einmal im Besitz von Wagen und Einkaufsbeute kannte die Rentnergeneration an ihren selbst bestimmten Plauderplätzen, in völlig entspannter Position und bester Laune, kein Erbarmen mit den hinzukommenden und nach leeren Einkaufswagen lechzenden Neuankömmlingen. Frustriert und mit leichten provokativen Remplern schob ich mir langsam den Weg zur Eingangsschranke in den Verkaufsbereich frei. Nur einmal schlugen mir entrüstete Worte ob meiner Dreistigkeit und Drängelei entgegen, die ich jedoch im Hochgefühl der überstandenen Strapazen als notwendiges und fast schon anspornendes Beiwerk verkraften konnte. Ich hatte das Gefühl, dass sich die Kaufhallenlobby immer mehr zum Ersatz für den Seniorentreff mauserte. Gab es denn keine anderen altersgerechten Treff- und Zeitpunkte für Rentner und angehende Ruheständler, als ausgerechnet den Eingangsbereich einer vielbesuchten Kaufhalle vor dem plötzlichen Einbruch des Wochenendes? Was machte die Kaufhalle zum anziehenden Symbol einer sozialkritischen Klagemauer? Hatte sich – von mir unbemerkt – ein neues, allwöchentliches Ritual in den Vorhöfen der Lebensmitteldiscounter entwickelt? Ging es vielleicht gar nicht mehr um Konsumtion, sondern vorrangig um Kommunikation zwischen den Menschen im Ruhestand? Hatte sich die Funktion der Kaufhalle gewandelt vom Einkaufstempel zum Marktplatz der Altersneuigkeiten? Weil die Möglichkeiten gegenseitigen Austauschs im Alltag der Seniorengeneration vielleicht zu eingeschränkt waren? Der Ausbruch aus dem häuslichen Bereich hier am einfachsten gelang und die Wahrscheinlichkeit, einem bekannten und mitbetroffenen Vertreter der best-ager-Generation über den Weg zu laufen, sehr hoch war? Dazu der Eintritt frei und ohne Verbindlichkeit war?

Mein eigentlicher Einkauf verlief unspektakulär. Zu einem kleinen, aber zeitraubenden Zwischenfall kam es abschließend im Kassenbereich, als eine ältere Dame der Kassiererin unbedingt ihre Erfahrungen bei der Zubereitung eines Brokkoliauflaufs loswerden musste und sich danach noch über den Frischegrad des Rucola echauffierte. Zu meinem Leidwesen hatte die Kassiererin ein offenes Ohr für neue Gerichte und schien dankbar für die Lektion in Auflaufzubereitung …

Ich sann auf Vergeltung! Und wie es der Zufall wollte: mitten in der Menschenmenge erkannte ich doch tatsächlich einen ehemaligen Arbeitskollegen. Ich nutzte die Gunst der Stunde und sprach ihn an. Und nachdem wir uns an unmittelbar im hochfrequentierten Kreuzungsbereich der hin- und hereilenden Menschenströme platziert hatten, empfand ich mich als integralen Teil der kontaktbereiten Seniorenkohorte mit selbstgefälliger, unbeabsichtigter Nullrücksicht auf kaufbereite Neukonsumenten. Nach gefühlten 20 Minuten „Fels-in-der-Brandung-Position“ fielen meine Anspannung und Wut wie ein ungeliebter Panzer von mir ab. Wir verabschiedeten uns höflich und ich schob voller Genugtuung, zeitlupenlangsam und unter den Augen verzweifelter, wagengieriger Kauflustiger meinen Einkaufswagen Richtung Parkhaus. Beim Einrasten in die Wagenkette fand ich keinen Euro, sondern nur einen Werbechip mit der Losung: “Spiel mal wieder Lotto“.

Doch was ist ein geopferter Euro für so viel Erlebniswelt in einer Kaufhalle?

Ihr (Vor)Ruhestandscoach Wolfgang Schiele

Wolfgang Schiele 2017 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de