Viele landläufige Annahmen über den Ruhestand treffen in der Realität leider nicht zu oder werden in ihrer Wirkung falsch eingeschätzt. So kommt es zur Bildung von Mythen über die Zeit nach dem Arbeitsleben. In loser Reihenfolge möchte ich mich zu einigen der wichtigsten Fehleinschätzungen äußern.
Die „Transzendenzverdrängung“ oder
„Warum immer alles logisch belegbar sein muss“
Während unserer aktiven beruflich geprägten Lebensphase – die durchschnittlich etwa 40 Lebensjahre umfasst – wurden wir fast ausschließlich mit den rationalen Werten und Maßstäben der uns umgebenden Realität konfrontiert. Wir waren angehalten, Dinge, Prozesse und Sachverhalte logisch und rational zu überprüfen, Kausalitätsketten aufzubauen und für unser tägliches Handeln eine lückenlose Beweiskette vorzulegen. Und meinten, daran würde sich auch in Zukunft, im Ruhestand nichts ändern. So wurden wir weitestgehend erzogen, ausgebildet und geschult. Emotionen hatten im sozialen und beruflichen Leben nichts (oder fast nix) zu suchen.
Für Alles und Jedes musste es eine nachvollziehbare und verständliche Erklärung und Begründung geben, die physikalisch, mathematisch, betriebswirtschaftlich oder über andere anerkannte Gesetzmäßigkeiten herleitbar war. Alle Instanzen unserer Berufswelt verlangten den kognitiven, ja sogar wissenschaftlichen Beweis. Die Welt tickte fast ausschließlich über den Verstand. Zumindest bei äußerlicher Betrachtung …
… denn wie die Wissenschaft längst weiß, fällen wir – bevor wir eine Aussage verstandesgemäß verbrämen – einige hundertstel Sekunden vorher schon eine nicht gewillkürte emotionale Entscheidung. Unser limbisches System ist eben naturgemäß schneller als der Neokortex. Im Bauch sitzt der Vorstand. Der Kopf ist „lediglich“ der Pressesprecher.
Mit dem Umstieg in den Ruhestand erhalten wir die Freiheit, Entscheidungen auch außerhalb eines reglementierten Rahmens fällen zu können. Wir müssen nicht immer wieder einen naturwissenschaftlichen Beweis antreten, eine hieb- und stichfest Kausalitätskette aufbauen oder ein betriebliches Normativ einhalten. Wir dürfen auch mal nur das annehmen, was in der Welt ist, ohne ständig zu hinterfragen: WARUM? Wir dürfen auch einmal Sachen geschehen lassen, die unseren bisherigen Erfahrungshorizont überschreiten. Und ohne zu fragen: WOZU? Es dürfen auch einmal Dinge geschehen, für die wir (noch) keine Erklärung haben und sie trotzdem bewundern. Ohne nachzubohren: WIESO? Denn das Staunen und Wundern ist den meisten von uns leider mit der ausgehenden Kindheit verlorengegangen. Wir dürfen ruhig ein wenig transzendenter werden …
Ihr (Vor)Ruhestandcoach Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2017 | Coaching50plus | www.coachingfiftyplus.de
17. Juli 2017 at 14:58
Ja, das ist ein Privileg und eine große Freiheit, die jedoch zunächst verunsichern kann. Wie Du schreibst – schließlich ist in den Firmen auch heute noch nahezu das gesamte Berufsleben „kopflastig“. Einige Berufsgruppen scheinen mir besonders in der Schieflage – Ingenieure und Projektleiter gehören dazu. Ausgewogener als in Technik-Unternehmen ist das Verhältnis zwischen Verstand und Intuition/ Emotionen vermutlich im sozialen Bereich. Wenn es eine Sache gibt, die ich gern früher verstanden hätte, ist das die Macht der Emotionen. In der Regel dominieren sie viele unserer Entscheidungen. Der Verstand gibt nur nachträglich seinen Segen (oder auch nicht). Bis diese Erkenntnis zum Nutzen von Menschen und Firma auch in der Wirtschaftswelt angewandt wird, wird es wohl noch eine Weile dauern. Wolfgang, vielen Dank für den anregenden Artikel!
LikeGefällt 1 Person