In fast allen Lebensbereichen fokussieren wir mit unseren verschiedenen Sinnen auf ein verhältnismäßig kleines Wahrnehmungsfeld: das Display unseres Smartphones, die Begrenzung des uns umgebenden Büros, die Schallmauer der akustischen Welt unserer fernseherbestückten Wohnstube, die wohlbekannten Gerüche unserer Küche …

Dabei grenzen wir – bewusst oder unbewusst – die schier unendliche Vielfalt der uns von der Natur angebotenen Reize und Eindrücke aus. Dieses Phänomen hat damit zu tun, dass wir während unserer beruflichen Tätigkeit konzentriert arbeiten und uns auf die Lösung einer gestellten Aufgabe fokussieren mussten. Nur, weil wir uns intensiv auf das zu lösende Problem fixiert hatten, konnten wir es auch lösen. Nun jedoch sind wir von der Arbeit befreit und haben als Ruheständler alle Möglichkeiten der Welt, unseren Wahrnehmungshorizont zu erweitern. Und aus dem engen Kreis der ungeteilten Aufmerksamkeit auf ein begrenztes Detail den Sinnen einen weiten, offenen und vielleicht sogar unbegrenzten Blick auf die uns umgebende Natur zu bieten.

Zu dieser Erfahrung gelangte ich, als ich vor drei Monaten einen Weiterbildungskurs in IntrovisionsCoaching bei Ulrich und Alice Dehner belegte. Zu einer der ersten Übungen gehörte es, aus dem Fenster zu schauen und – ausgehend von der Konzentration auf ein Einzelereignis im brodelnden Straßenverkehr von Berlin – eine weite Wahrnehmungsposition einzunehmen. Heißt: Den Blick bis auf die Grenzen des Möglichen nach rechts und links, nach oben und unten auszuweiten und in einer Art beobachtender Gleichmut die Gesamtsituation neutral und wertfrei zu erfassen. Neben der visuellen Umstellung von „punktuell auf unendlich“ gelang es mir mit etwas Mühe sogar, die Geräuschkulisse von einem akustischen Einzelereignis auf den Klangteppich der gesamten Verkehrszene auszuweiten.

Diese Fähigkeit der konstatierenden und gelassenen Sinnesrezeption macht man sich bei der sog. Introvision, die durch Frau Prof. Angelika Wagner an der Uni Hamburg vor einigen Jahren begründet wurde, zunutze. In einem Zustand des interesselossen Wohlgefallens fällt es uns leichter, belastende, aber nicht existenzbedrohende Alarmzustände unseres Gehirns zu ignorieren und ins Leere laufen zu lassen.

Seit einiger Zeit habe ich es mir angewöhnt, frühmorgens einen Spaziergang im Wald und am Ufer des Scharmützelsees zu unternehmen und (neuerdings) ganz genau zu erspüren, welche fernen Eindrücke optischer und akustischer Art mich erreichen. Blick und Gehör sind mittlerweile eingestellt auf Weite und Raum. Ja, es gelingt mir mitunter sogar, den eigenen Blick unscharf zu stellen und aus dieser optischen Einstellung neue Muster in der mich umgebenden Natur zu erkennen, die ich bisher noch gar nicht bemerkt hatte.

Es ist schon interessant festzustellen, dass wir unseren Blick nicht nur in einem Sichtfenster von 120° oder 150° schweifen lassen, sondern ihn sogar auf bis zu 215° ausweiten können (wir können als praktisch auch unsere Ohren sehen 😉 … . Der weite, periphere Blick (ich schrieb darüber in meinem gleichnamigen Blogbeitrag unter https://wp.me/p7Pnay-18M) ist eine wunderbare Möglichkeit, hinter das Wesen der Dinge zu schauen und ganz neue sinnliche Erlebnisse und Einsichten zu gewinnen.

Probieren Sie es einfach einmal an einem Gemälde oder einer Fotografie: Schauen Sie sich konzentriert ein beliebiges Detail auf dem Bild an und versuchen Sie, sich ganz und gar darauf zu fokussieren. Versuchen Sie dann, das Werk in seiner Gänze und Komplexität zu erfassen, ohne mit den Augen an Einzelheiten festzuhalten. Wenn Ihnen das nicht auf Anhieb gelingt, dann nehmen Sie Ihre beiden ausgestreckten und aneinandergelegten Zeigefinger vor die Augen, heften Sie Ihren Blick darauf und ziehen Sie sie dann nach links und rechts langsam zur Seite, ohne Ihre Augen zu bewegen. Fokussieren Sie weiter geradeaus und nehmen Sie wahr, wie weit sie den entschwindenden Zeigefingern visuell folgen können. Viel Spaß und viele neue und weite Wahrnehmungen!

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach Wolfgang Schiele

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