
Sie scheinen wieder große Konjunktur zu haben – die Artikel, Berichte und (Zwischen-)Ergebnisse über die schier unendliche Verlängerbarkeit menschlicher Existenz. Gerade hat 3Sat der Wissenschaftssendung Scobel einen 45-minütigen Filmbeitrag über das breite Forschungsspektrum fürs „ewige Leben“ vorangestellt. Kurz darauf veröffentlichte „Die Zeit“ einen Aufsatz über die millionenschwere Unterstützung reicher Privatiers für kalifornische Start-Ups zur Forschung über „lebensverlängernde Maßnahmen“ …
Das Silicon Valley hat sich ja nicht erst vor Kurzen aufgemacht, die Wirkmechanismen hoher Lebenserwartung als weiteres Standbein für das wirtschaftliche Aufblühen und einen unendlichen Profit in den Staaten aufzubauen. Unter dem Motto: „Wir schaffen das Alter ein für alle mal ab.“ und: „Das Alter ist eine Krankheit, genauer gesagt: eine Immunschwächestörung.“ Und deshalb kann es behandelt werden. Z. B. mit Stammzellen, die man in jungen Jahren entnimmt und bis ins höhere Alter zum Zuspritzen einlagert. Oder durch kohlenhydratarme, eiweißreiche und asketische Ernährung. Oder mit neuen Tinkturen, die ein neues Zeitalter der Pharmakologie einleiten werden; die Aktienkurse werden durch die Decke gehen …
In einer Zeit, in der man (fast) alles in unglaublicher Rasanz bekommen kann, in der Geld (fast) beliebig in andere Sehnsuchtsartikel umgetauscht werden kann; in einer solchen Zeit erscheint es uns schon fast simpel, sich ein (fast) unendlich langes Leben erkaufen zu können. Die moderne kapitalistische Welt gaukelt uns die komplexe und unbegrenzte Wünscherfüllung vor. Auch die von der ständigen Verschiebung des Todestages auf den Sanktnimmerleinstag.

Ich vermisse bei all den Diskussionen und Bestrebungen um die Erhaltung des Körpers die Beschäftigung mit der Seele; mit dem, was als menschlicher Anteil in der medizinischen Forschung nachgeordnet scheint. Wie wir wissen, sind die psychischen Störungen auf weiter Front auf dem Vormarsch. Sie haben im Ranking um die Spitzenplätze nach wie vor die besten Karten. Was, wenn wir zwar den Körper disziplinieren und zur biologischen Weiterexistenz erziehen können, aber unser Seelenleben mit Depressionen und Demenzen belastet ist? Was, wenn wir von unseren Motorikapparat her noch mobil wären, aber soziale Phobien und Panikattacken uns keine Chance auf gesellschaftliche Teilhabe lassen? Was, wenn der Körper noch willig, aber unsere geistigen Fähigkeiten zu eingeschränkt für erlebenswerte Unternehmungen wären? Ich finde, es ist zu kurz gesprungen, sich ausschließlich auf die Reproduzierbarkeit von Körperzellen, die Beeinflussung des Stoffwechsel und die Entwicklung künstlicher Bewegungshilfen zu konzentrieren. Zum Altern gehören soziologische, psychische, gesellschaftliche, politische, monetäre und weitere Rahmenbedingungen, die erfüllt sein müssen, um ein (über-)langes Leben auch erstrebenswert erscheinen zu lassen.
Vergänglichkeit motiviert für eine intensive Wahrnehmung des Momentes. Dafür, so denke ich, leben wir. Ließe sich Leben unendlich verlängern, dann fehlte uns u. a. die Motivation und Zielstrebigkeit, Dinge zu beginnen und auch zu Ende zu bringen. Wir würden den Augenblick des Genusses, der sinnlichen Befriedigung und der Schönheit nicht ausreichend zu würdigen wissen. Es würde uns den Lebenssinn rauben; ja, uns regelrecht davon abhalten, uns auf die Sinnsuche zu begeben, denn wir verfügen ja über genügend Zeit. Dann würden wir eher in tiefe Prokrastination verfallen, weil wir ja später noch Zeit genug zur Verfügung hätten, bestimmte geliebte oder – oder auch verhasste – Dinge zu tun. Und man bedenke: Wenn einem die „Gnade“ eines überlangen Lebens zuteil wird und den meisten Altersgefährten nicht, dann muss man auch immer den Schmerz des Alleinseins, der Einsamkeit, der Trennung von seiner Generation verarbeiten und die Trauer, die durch das Wegsterben der eigenen Nachkömmlinge in einer oder mehreren Generationen entsteht.

Aber vielleicht haben all die, die kramp- und fieberhaft nach dem Erhaltungselixier des Lebens suchen, bisher keinen Moment der eigenen BeSINNung gefunden. Womöglich jagen sie einem Phänomen hinterher, das nicht vordergründig auf ein immer wieder verlängerbares Leben abzielt, sondern als Fluchtreflex vor der Endlichkeit des Lebens dient und zusätzlich als Ersatz für ein unerfülltes, orientierungsloses und veruntreutes Dasein herhalten muss.
Weil Altern eben keine Krankheit ist, gibt es keine Medikamente dafür.
Nehmen wir der Endlichkeit des Lebens nicht ihren Sinn.
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße
Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
© Wolfgang Schiele 2019 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de
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