
Eine neues Gesellschaftsmodell hat sich durchgesetzt: Der absolute Überwachungskapitalismus, der uns bis in den letzten Winkel unserer Privatsphäre und Persönlichkeit hinterherspioniert. Fast ungestört von politischen, rechtlichen und juristischen Vorgaben und Eingriffen des Nationalstaates hat er sich aller Ebenen des menschlichen Denkens und Handelns bemächtigt. Das Fehlen einer gesellschaftlichen Zukunftsvision und die ausbleibende Fortentwicklung des bislang erfolgreichsten Gesellschaftsmodells unserer Zeit haben dazu geführt, dass demokratische Grundprinzipien weitgehend unbemerkt, unbelangt und unbestraft unterlaufen wurden und unsere Arbeit und unser Alltag von uneingeschränkter Datensammlung bestimmt wird.
Die Ausbeutung des Menschen, seiner Muskelkraft, wird in dieser zweiten großen industriellen Revolution abgelöst durch die Ausbeutung des Kopfes, der Gedanken, der Privatsphäre. Es geht um die Gesamtheit menschlichen Denkens und Verhaltens. Und sie macht auch nicht Halt davor, seine Wertewelt zu beeinflussen, seine Identität zu entzaubern, seine sozialen Rollen neu auszuprägen. Nachdem die physischen Kräfte ausgebeutet wurden, wird unsere Gesamtpersönlichkeit mit all ihren Facetten im digitalen Experimentierraum einer grenzenlosen Ausweidung dargeboten. Damit ist die Fremdbestimmung des Menschen durch die Organisation „FAM AG“ – bestehend aus Facebook, Apple, Microsoft, Amazon und Google – auf einem neuen Niveau angekommen. Shoshana Zuboff (siehe weiter unten) spricht in diesem Zusammenhang von einem nichtstaatlichen Putsch (wobei ich mir noch nicht wirklich sicher bin, ob gewisse Institutionen doch mit einer Hand ins Steuerrad greifen …)

Es ist in der Tat so: Totalitär sind nicht (nur) einzelne Nationalstaaten, sondern in aller erster Linie das Netz! Jede Form von Arbeit, jedes Bestreben um soziale Teilhabe, ja fast jede Art menschlicher Kommunikation ist in allen Lebensbereichen unabdingbar mit der Nutzung des Internets verbunden. Es gibt kein wirkliches Entrinnen aus einem Netz von Missbrauch und Manipulation. Hier reicht auch keine persönliche Protesthaltung oder Teilabstinenz mehr: Selbst wenn wir bewusst und selbstbestimmt auf Informationsaustausch via Facebook oder Google verzichten würden, ist schon heute die Menge an eingesammelten Daten für die weltweite Netzwerkkrake ausreichend, um demokratische Nationalstaaten zu destabilisieren, große Menschengruppen zu kriminalisieren oder Abertausende Individuen in den Ruin zu treiben.
Zu den zentralen Fragen, die sich die noch halbwegs mündigen Menschen und erwachsenen Demokratien ohne schuldhaftes Zögern jetzt stellen müssen (siehe auch bei Shoshana Zuboff, Sozialpsychologin und Philosophin, DIE ZEIT Nr. 52/2019), gehören:
„Wer weiß?“
„Wer entscheidet, wer weiß?“
„Wer entscheidet, wer entscheidet?“
Das sind Machtfragen. Machtfragen gehören in die Hände souveräner und demokratischer Staaten. Und nicht in private. Es ist an der Zeit, dass Kontrollfunktionen von Demokratien erschaffen werden, die dem ungehemmten Datenmissbrauch entgegentreten. Vielleicht wäre auch ein alternativer Medienmarkt ein Baustein zur Lösung, womöglich auch eine dividendenorientierte, restriktive Steuerpolitik. Aber ein „Call to action“ wäre das Mindeste, was nötig wäre, um dem Machtmissbrauch ein Ende zu setzen.
„Der Überwachungskapitalismus ist – wie der Klimawandel – ein gigantisches Marktversagen.“ (Shoshana Zuboff). Das hat aber nicht der sich angeblich selbstregulierende Markt, sondern die zur Salzsäule erstarrte und hilflos-zögerliche Politik zu verantworten. Weil sie in ihrem senil-konservativen Analogiedenken, ihrem behäbig dahinschlurfenden Demokratieschleifen und ihrer mütterlich beschwichtigenden „Alles- wird-gut“-Ideologie den Datentechnokraten einen immer größeren Vorlauf gestattet. Mit verheerenden Folgen. (Anmerkung: Gerade wegen dieser manchmal naiv wirkenden Ahnungslosigkeit hege ich den Verdacht, dass es eine intensive, verdeckte, aber innige Zusammenarbeit zwischen den privatorganisierten Unternehmen und gewissen, mehr oder weniger geheim agierenden Staatsorganisationen gibt …)

Wir werden herunterreduziert auf ein paar Gigabite Daten. Wir werden teils heimtückisch, teils naiv an die Harmlosigkeit des WWW und den eigenen Vorteil glaubend, von den Dividendenjägern durchdigitalisiert. Die Jäger sind im Besitz von unglaublich starken Techniken zur Datensynthese, die jeden der 7,5 Milliarden Menschen auf der Erde zu einem manipulierbaren, formbaren und beliebig zu- und abschaltbaren Teil der Gesamtgesellschaft machen können. Es fehlt nicht mehr viel, und wir können als ideale maschinelle Kopien unseres Selbst erschaffen werden. Als Teil einer gigantischen Datenwolke, die demnächst als apokalytischer Vorbote eines schlimmen Unwetters über uns heraufzieht.
Das alles soll nicht heißen, dass wir die technische Entwicklung verdammen, meiden und demontieren sollen oder können. Wir werden das Leben nicht entdigitalisieren und uns in eine klinisch reine Analogwelt zurückziehen können. Wir sollten aber von der Politik nachdrücklich einfordern, dass sie sich als gesellschaftlicher Souverän über die Fremdbestimmer und Informationssammler hinweg und gleichzeitig Grenzen setzt, die uns die Hoheit über die eigenen Daten wieder zurückgibt. Und vor allem eine Vision über die zukünftige Ausrichtung unserer Gesellschaft entwickelt. Denn das ist das entscheidende politische Manko unserer Zeit.
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße
Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2019 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de
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