In einem meiner Seminare habe ich 2018 erstmals Fragen nach der komplexen Präsenz von Teilnehmern im laufenden Event gestellt. Auf meinem Flipchart standen drei Fragen …

I C H – „Zu wie viel Prozent (von 100) sind Sie gerade anwesend?“

H I E R – „Wie angenehm – auf einer Skale von 1 (überhaupt nicht angenehm) bis 10 (äußerst angenehm) – fühlt sich Ihr Hiersein für Sie an?“

J E T Z T – „Wie intensiv – auf einer Skale von 1 (überhaupt nicht) bis 10 (außerordentlich stark) erleben Sie die aktuelle Situation?“

Im ersten Augenblick nach der Fragestellung herrschte eine Atmosphäre der Verwunderung und Unsicherheit. Aber bereits nach wenigen Sekunden schrieben alle TeilnehmerInnen intuitiv ihre drei Werte auf. Danach kam eine Diskussion in Gang:
Wozu gerade diese Fragen am Beginn eines Seminars?
Was verbirgt sich hinter ihnen?
Wie kommt es, dass ich – ohne langes Nachdenken – einen präzisen Wert vergeben kann?

Das ICH steht für die Persönlichkeit, den Charakter, das Wesen des Befragten. Hier erkundet er, wie bewusst er sich seiner Identität, seiner Werte und Glaubenssätze gerade ist. Und wie viel sein anwesendes Ich im aktuellen Kontext an Erfahrungen, Wissen und Gefühlen in die Situation einzubringen bereit ist. Genauer gesagt: Welcher persönliche Eigenanteil ist jetzt konzentriert und fokussiert auf die Aufgabe, die Situation, die Kommunikation? Heißt im Umkehrschluss: Wie viel von ihm selbst ist gerade mit ablenkenden Themen, drückenden Sorgen oder situationsunabhängigen Sehnsüchten und Bedürfnissen beschäftigt?

Das HIER bezieht sich auf den Ort des Geschehens im Moment der Fragestellung. Sind der Ort, der Treffpunkt, der Raum richtig, passend, motivierend genug für die aktuelle Aufgabenerfüllung? Will ich überhaupt hier sein – oder besteht ein gewisser Zwang? Was können die Beteiligten dafür tun, dass sich ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit im Hier entwickeln kann? Fühlt sich der Befragte leistungsfähig oder eher eingeengt in seiner augenblicklichen räumlichen Position?

Die Frage nach dem JETZT sucht Antworten auf das augenblickliche rationale und emotionale Erleben. Ist der richtige Moment gewählt worden oder findet die Kommunikation, das Event, die Konfrontation, zur Unzeit für den Befragten statt? Gibt es für den Befragten Vorhaben, die zurzeit wichtiger wären oder dringlicher? Ist es für ihn lästig oder nervig, gerade zu diesem Zeitpunkt einer bestimmten Situation ausgesetzt zu werden? Oder empfindet er ihn als passend?

Warum es trotz des komplexen Hintergrundes recht schnelle Antworten auf diese drei Fragen gibt? Eigentlich ganz einfach: Unsere Intuition vergibt die Punkte! Unser rationales Denken wird weitgehend zurückgedrängt, unsere Gefühle entscheiden ganz spontan! Zum einen reduzieren sich Fragen auf radikale Vereinfachungen, wie:

Ist das was für mich?“
„Bin ich hier richtig?“
„Passt mir der Zeitpunkt?


Und zum anderen übernimmt unser limbisches System die Führung, das in Umgehung unseres Neokortex mit spontanen (früher lebensrettenden) Entscheidungen reagiert.

Egal, ob in Lang- oder Kurzform gefragt. Die Antworten sind eine Aussage zum Anteil ganzheitlicher Präsenz einer Person in der vorgegebenen Situation. Je höher die Skalenwerte ausfallen, desto intensiver ist die Identifikation mit der anstehenden Aufgabe. Liegen die Abfragewerte sehr niedrig, dann ist es wahrscheinlich, dass die zu lösende Aufgabe schlecht oder gar nicht bewältigt wird. Befinden sich alle drei Werte jenseits von 50%, so steigt die Gewissheit, dass ein Situation erfolgreich gemeistert werden kann. (Voraussetzung ist natürlich, dass ehrliche und wahrhaftige Antworten gegeben werden.)

Es fällt uns in der Regel schwer zu sagen, was genau gut oder schlecht ist. Oder anders. Oder gleich. Aber wir können meist genau unterscheiden und exakt skalieren zwischen polarisierenden Werten, wenn uns ein Maßstab vorgegeben wird.
Starten Sie mit dieser Übung mal ein Seminar, eine Besprechung, eine wichtige Entscheidungssequenz. Das Ergebnis sollte Ihnen sagen, ob die Teilnehmer bereit und präsent genug sind für die laufende Aufgabe, ob es noch Widerstände gibt, die es noch auszuräumen gilt oder ob das Event sogar vertagt werden sollte.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!
Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren

© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de