
Wie ist es Ihnen ergangen, als Sie sich vom Beruf gelöst haben (oder auch lösen mussten) und in eine neue Lebensphase eingetreten sind? War es belastend für Sie, sich von den alten Gewohnheiten zu trennen? Ist es Ihnen schwergefallen, loszulassen von den sozialen Rollen, die Sie in Ihrem oder einem fremden Unternehmen bis dahin eingenommen hatten? Oder waren Sie gut auf die neue Lebenssituation vorbereitet, hatten sich bereits seit geraumer Zeit neue Aufgaben, neue Ziele gesetzt und konnten deshalb ohne Umschweife Ihre ganz persönliche Veränderung einleiten?
Als ich begann, mich mit dem Thema „Übergang vom Beruf in den Ruhestand“ zu beschäftigen, dachte ich an eine Gruppe von Menschen, denen es naturgemäß sehr schwerfallen dürfte, sich von ihrer Profession zu trennen: die Firmenchefs und Führungskräfte in kleinen und mittleren Betrieben, die „Patriarchen“ in erfolgreichen Familienunternehmen. Ich recherchierte einige Kontakte bei XING auf der Suche nach Fragen zur Betriebsübergabe und zur Nachfolgeregelung. Ich fand, kurz gesagt, ausschließlich BWL´ler, Berater und Coaches, die sich mit der Nachfolgeregelung, den wirtschaftlichen Folgen und den Personalien der Übernehmenden befassten. Nicht aber mit den emotionalen Fragen und psychischen Problemen der scheidenden Geschäftsführer und Führungskräften.
Welcher sich trennende Unternehmenslenker wird denn nach seinen persönlichen seelischen Befindlichkeiten gefragt, seinen nun anstehenden Aufgaben, Zielen und Sehnsüchten? Leider kenne ich gut ein Dutzend Menschen, die aus einer geschäftsführenden oder leitenden Rolle scheidend mit sich und der Welt nicht im Reinen sind, psychisch und körperlich schwer erkranken und sogar kurz nach dem Austreten aus dem Betrieb sterben. Zweifellos gibt es hier übersehene, ich möchte fast sagen: veruntreute Lücken im Beratungsgeschehen. Denn die Biografie des Patriarchen ist mit dem Ausscheiden aus dem Familienbetrieb nicht zu Ende geschrieben.
Ich bin der Meinung, dass es fahrlässig ist, als Berater die Verantwortung „nur“ für das Wohl von Betrieb, Mitarbeitern, Kunden und Kapital zu übernehmen. Der Betriebsübergang verlangt m. E. zwingend, auch die Übergangsbegleitung des scheidenden Chefs in seine nächste Lebensphase zu übernehmen. Dafür habe ich für Coachingsequenzen, insbesondere mit Führungskräften, eine Vorgehensweise in sechs Schritten konzipiert:
1. Persönliche Erfolge würdigen
2. „Trauerfall“ Trennung bewältigen
3. Verdrängtes (wieder-)entdecken
4. Visionen und Ideen in Zukunftsziele transformieren
5. Vergangenheit nachhaltig loslassen
6. Eigene Potenziale auf Zukunft ausrichten.
In Phase 1 geht es um die Wiederentdeckung, Wertschätzung und Würdigung der im (Berufs-)Leben erreichten Erfolge. Hier soll sich der Coachee seiner größten Stärken, seiner erreichten Ziele und seiner umfangreichen Erfahrungen bewusst werden. Neben einem intensiven Blick in den „Rückspiegel des Lebens“ wird hier auch ein Snapshot der aktuellen psychischen Situation in Form eines „Boxen-Stopps“ aufgezeichnet.

Eine nicht zu unterschätzende Etappe ist die Auseinandersetzung mit den Verlusten aus den früheren sozialen und beruflichen Rollen – wie z. B. dem materiellen Machtverlust, dem Einfluss auf Geschäftsentscheidungen und der strategischen Ausrichtung des Unternehmens. Jeder Verlust im Leben ist ein Trauerfall. Deshalb ist es wichtig, individuelle Trauerarbeit zu leisten und neben der Würdigung des Erreichten auch Sentimentalitäten und Empfindsamkeiten zuzulassen. Weil sich sonst Schuldbewusstsein, Verachtung, Wut, Scham und Hass gegen das eigene Selbst wenden könnten. Wenn sich jedoch in dieser Phase endlose Grübelattacken einschleichen, Anpassungsstörungen auftreten oder gar depressive Reaktionen eintreten, dann ist psychotherapeutische Hilfe angesagt.
In Phase 3 des Coachings schauen wir genauer in die Biografie hinein, wir führen gemeinsam ein Lebensrückblicksinterwiev darüber durch, was wir seit unserer Kindheit/Jugend verdrängt, vergessen, verschüttet haben an Herzenswünschen, an Kindheitsträumen, an „verpassten Chancen“. Vielleicht gab es eine Weggabelung, an der der Coachee abbiegen wollte, aber es nicht konnte. Vielleicht eine große Liebe, zu wem oder wozu auch immer, die unerfüllt blieb. Vielleicht ein Berufswunsch, der seinerzeit unerreichbar war. Hier schauen wir, ob es aus der Sicht des reifen, erfahrenen und gestählten Coachees Möglichkeiten gibt, veruntreute Lebensläufe auf einem neuen Niveau dennoch auszuleben.
In Schritt 4 werden nun neue Zukunftsszenarien entwickelt. Für die Formulierung wohlgeformter Ziele, die eine hohe Umsetzungswahrscheinlichkeit haben, gibt es eine Reihe von Interventionen (z. B. das SMART- oder SPEZI-Modell, die Neurologischen Ebenen nach R. Dilts u. a.). Wichtig ist, dass sich die Ziele in Übereinstimmung mit der inneren und äußeren Wertewelt des Coachee befinden. Unter Umständen müssen behindernde Glaubenssätze bearbeitet und durch neue Freiräume ergänzt werden. Es ist immer gut, wenn der Coachee hierfür in der „Schatztruhe seiner Kindheit kramen“ kam, um vielfältige Ausgangsimpulse für die Zielentwicklung zu ergreifen.
In Phase 5 geht es um das endgültige und unumkehrbare Lolassen. Jeder Wechsel von einer Lebensphase in die andere sollte mit einem Ritual beendet bzw. begonnen werden. So, wie z. B. der Eintritt in die Erwachsenenwelt mit 14 Jahren durch die Konfirmation oder Jugendweihe feierlich begangen wird. Das oder die Rituale des Abschiedes, der Trennung, des Loslassens können nur individuell durch den Coachee gefunden werden. Der Coach unterstützt bei der Suche, z. B. über die bevorzugten Wahrnehmungskanäle oder schlägt je nach Präferenz des Coachee ein räumliches, zeitliches oder individuelles Zeremoniell vor. Dabei sollte insbesondere mit Symbolen gearbeitet werden, die mit der Vergänglichkeit und Veränderlichkeit unserer Welt zu tun haben.
Nicht zu vergessen Schritt 6: Nicht mehr zu entscheiden, nicht mehr zu führen, nicht mehr zu visionieren bedeutet nicht etwa „nicht mehr arbeiten“ oder „Müßiggang und Faulheit“ fördern und als Nichtsnutz dastehen. Im Gegenteil: Sie bedeuten die fokussierte Aufmerksamkeit auf das Neue, die gespannte Konzentration auf eine neue Lebensphase und die Lust auf bisher Verdrängtes, Niedagewesenes und Unerhörtes! Der Coach hat während der Gespräche in Phase 1 bereits einige Kompetenzen herausgehört und Ressourcen entdeckt, die er dem scheidenden Unternehmensführer auf seinem Weg in die nachberufliche Phase mitgeben kann. Alle Energie, alle Erfahrung, alles Können kann jetzt als Startenergie für die zukünftige Ausrichtung durch den Coachee genutzt werden.
„Unnütz sein“ ist die Definition, die die Außenwelt als Klischee einsetzt, ohne sich bewusst zu sein, dass für den Betroffenen damit eine völlig neue innere Bedeutung entsteht …
Vielen Dank für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit! Gern vertiefe ich in Workshops oder Coachings diesen Ansatz – ob vor Gruppen oder in einer Einzelkonsultationen.
Mit besten Grüßen
Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für Senioren
© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de
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