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In meinem Blogbeitrag „Die unvollendete Nachfolgeregelung – oder Loslassen will gelernt sein“ (https://wp.me/p7Pnay-1Z9) – habe ich am konkreten Beispiel der Nachfolgeregelung gezeigt, dass das Loslassen ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit mit Patriarchen und Unternehmenslenkern ist, wenn sie die Firma, meist „ihr persönliches“ Unternehmen, verlassen. In diesem Beitrag geht es ganz allgemein um das Phänomen des Loslassens, vor allem in der Übergangsphase in den Ruhestand …

Wochenlang treibt es mich schon um – das Loslassen von Dingen, die mir irgendwann ans Herz gewachsen sind und nun nur noch im Wege stehen. Das Dreikistenprinzip hat nicht viel geholfen: behalten, Fegefeuer, wegwerfen. Es ist wie eine Zwickmühle bei Horst Lichters Trödelsitcom „Bares für Rares“: Dem einen fällt das Verkaufen leicht, ein anderer pokert hoch und ein Dritter besinnt sich eines anderen und nimmt das Ding im letzten Moment im Angesicht der Händler doch wieder mit nach Hause.

„Es gibt so viele Gründe,
alles beim Alten zu lassen,
und nur einen einzigen,
doch etwas zu verändern:
du hältst es einfach nicht mehr aus.“
(H. C. Fleming)

Doch im Leben muss man Abstand gewinnen. Spätestens dann, wenn es heißt, in einen neuen Lebensabschnitt zu treten. Keiner hat diesen Schritt so wunderbar einprägsam beschrieben, wie Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“:

„… Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben …“

Grafik: Wolfgang Schiele

Ein besonderer Moment ist der Übergang vom Beruf in den Ruhestand, der uns alle früher oder später einmal ereilt. Und hier geht es nur durch konsequentes und komplexes Loslassen: von Werten und Überzeugungen im Berufsleben, von Zuständigkeiten und Verantwortungen im Job, von sozialen Rollen und Zuschreibungen im Unternehmen, von professionellen Zwängen und Bindungen im Karrierenetzwerk. Wie ein Schauspieler, der soeben seine Bühne verlässt muss auch der angehende Ruheständler lernen, seine Maske abzunehmen, sein Kostüm zu wechseln und seine Requisiten zurückzulassen. Um eine Grenze zu ziehen und zu entkommen in die Freiheit einer anderen Welt. Doch er darf auch nicht vergessen, sich Ersatz zu schaffen und sich eine neue Werte- und Rollenwelt vorzubereiten: Mit attraktiven Zielen und Inhalten, in anderen Netzwerken, in einer anfangs befremdlich wirkenden Umwelt und in sich ändernden Beziehungen.

Uns selbst die Erlaubnis zu erteilen, loszulassen, ist eine schwere Bürde, aber auch eine mutige Herausforderung. Hermann Hesses moderner Schriftstellerkollege John Strelecky („Das Café am Rande der Welt“) gibt uns gleich mehrere Ratschläge:

1. Jedes mal, wenn du etwas Neues anschaffst, wirf im Gegenzug etwas raus.

2. Lebst du im Überfluss, dann werde täglich zwei Dinge los: Schmeiß sie entweder in den Müll, verschenke sie, recycle sie, spende sie. Aber entferne sie aus dem Haus. Mindestens 90 Tage lang hintereinander …

3. Schaffe Platz – und fange am besten im Kleiderschrank damit an! Es ist, als ob man seinen Kopf aufräumt und wieder Übersicht und Klarheit in sein Leben bekommt!

Solange unser Gehirn keine existenziellen Gefahren für´s Überleben ausmacht, will es uns in der wohlig und gemütlich eingerichteten Komfortzone von Sicherheit und Kontrolle einengen und wehrt sich gegen Veränderungen. Denn außerhalb der Komfortzone liegt ja das Unbekannte, das Ungewisse, womöglich auch das Unglück. Doch folgt man nicht nur seinem Verstand, sondern auch seinen Gefühlen und geht entschlossen über die unsichtbare Linie, so eröffnet sich die Chance zur Selbstbefreiung, man erhält die Geschenke der Selbsterkenntnis und die Perspektive einer frei gestaltbaren Zukunft.

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Der Prozess des Loslassens verunsichert uns. Weil er eine Lücke reißt in unserer biografischen Entwicklung, schmerzliche Erinnerungen auslösen kann und oftmals einen neuen Lebensweg vorgibt. Es ist außerordentlich wichtig, die entstandenen Lücke, den eingetretenen Verlust durch etwas zu ersetzen, was die Zukunft attraktiv, reizvoll und verlockend erscheinen lässt. Besonders schwer ist es, sich von einem Menschen zu trennen, ihn loszulassen. Vielen Eltern können es z. B. nicht verwinden, wenn die Kinder das elterliche Haus verlassen. Oder wenn der langjährig vertraute Partner durch seine Trennung eine tiefe Wunde reißt. Gerade deshalb sollten wir uns öffnen für Neues und nicht ewig das Klagelied des Verlassensschmerzes singen. Weil nicht das Leid dadurch enststeht, was der andere sagt oder tut, sondern weil wir uns selbst anklagen, die Welt negativ bewerten und verurteilend gegenüber anderen reagieren.

Der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart sagte: „Man muss erst loslassen, um gelassen zu werden.“ Gelassenheit gehört zu den größten Tugenden im fortschreitenden Alter. Sie ist – das ist meine volle Überzeugung nach vielen Jahren intensiver Beschäftigung mit der Übrgangszeit vom Beruf in den Ruhestand – eine Grundvoraussetzung für eine sinnvolle, erfüllende und glückliche dritte Lebensphase. Also lassen wir los und genießen den „Zauber, der jedem Anfang innewohnt, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“, wie Hermann Hesse schrieb.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße

Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren

© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de