
Ich mochte den Begriff und die damit empfohlene Art der Lebensgestaltung früher überhaupt nicht: Work-Life-Balance. Es war für mich, als ob ein Äquilibrist, der auf einen Brettchen mit darunter liegender Rolle oder Kugel stand, im ständigen Überlebenskampf um sein Gleichgewicht war. Mit mehr oder weniger sanften Bewegungen müht er sich ab, auf dem Brett zu bleiben. Wie viel Geschick bedarf es, welcher langjähriger Übung, die Balance zu halten. Auch im wirklichen Leben. Gar nicht zu sprechen von der Aufmerksamkeit und der Unmenge an Kraft und Energie, die er jeden Moment aufbringen muss.
Nun jedoch fand ich einen inspirierenden Artikel, in dem die Journalistin Teresa Bücker eine Art Work-Life-Balance nicht nur für die Erwerbsphase vorschlägt, sondern anregt, sie lebensphasenübergreifend bis ins hohe Alter hinein zu verlängern. Sie argumentiert: Mit dem Eintritt in die Rente liegen vor uns durchschnittliche 20 und mehr Lebensjahre. Heute geborene Mädchen können rein statistisch gesehen – und insbesondere, wenn sie später reich werden und/oder sich selbstständig machen – rund 100 Jahre alt werden. Was tun mit der vielen Zeit, die dann bleibt?

Was hält uns eigentlich davon ab, die gesamte Lebenszeit komplett neu zu denken? Sie in der Tat lebenslang mit einer gutverteilten Mischung aus sinnhafter Tätigkeit für die Gesellschaft und eigener Selbstverwirklichung zu füllen? Ist es nicht denkbar, z. B. zwischen dem 33. und 35. Lebensjahr, wenn die physischen Kräfte noch auf der Höhe sind, eine herausfordernde sportliche Leistung zu vollbringen und dafür den Beruf auszusetzen? Um später, sagen wir ab 69, seine Programmierkenntnisse drei Jahre lang in einem Unternehmen zur Verfügung zu stellen? Kann man einige Ziele seiner dritten Lebensphase nicht vorziehen und im Vollbesitz seiner Energien außerberuflichen Sehnsüchten nachgehen? Und dafür Anteile beruflicher Tätigkeit zeitlich nach hinten verlagern; in Lebensabschnitte, in denen zur Berufsausübung mehr der Geist gefragt und ein größerer Erfahrungsschatz verfügbar ist?
Es sollte doch möglich sein, die Zwänge des MÜSSENS und SOLLENS der reinen Erwerbstätigkeit zu vermischen mit dem KÖNNEN und DÜRFEN der persönlichen Freiheit? Ein solcher Ansatz würde meiner Meinung nach die Arbeit entschleunigen, messbar weniger Stress produzieren und zu einem glücklicheren und gesunderem Leben führen. Was kann zufriedener und gelassener stimmen, als in selbstbestimmtem Tempo die beruflichen Anforderungen und persönlichen Zielvorstellungen über einen großen Zeitraum miteinander zu verzahnen und über die Lebenszeit zu vergleichmäßigen? Nicht abzuwarten mit der Umsetzung seiner Pläne bis zum Zeitpunkt X, von dem man nicht weiß, ob sie überhaupt noch realisierbar sind, weil es z. B. die Gesundheit nicht zulässt?
Man verteile die gemeinnützige Erwerbsarbeit auf große Zeiträume, richte sich auf lebenslanges Arbeiten ein und genieße bereits auf dem Wege ins Alter all die Vorzüge persönlicher Traumerfüllung, für die es später aus den unterschiedlichsten Gründen womöglich zu spät sein könnte.
Oder noch besser: Man wähle, finde, kreiere eine Tätigkeit, die nicht als Arbeit daherkommt, sondern uns beschwingt, uns wärmend wie ein Sommertag umfängt und uns von Anfang an in unserem tiefsten Inneren beglückt. Prof. Leopold Stieger nennt es Freitätigkeit, eine Beschäftigung, in der wir uns frei fühlen, frei sind in ihrer Ausgestaltung, weitgehend frei von äußeren Zwängen. Die dazu beiträgt, dass wir mit unserer Selbstverwirklichung nicht mehr bis zum Ruhestand warten müssen.

Gleichen wir das zu erwartende Übermaß an Freizeit in Freiheit im fortgeschrittenen Alter doch besser aus durch ein Vorziehen der Lebensgenüsse in die sonst von Zeitdruck und Stress gezeichnete Arbeitsphase. Was so häufig im Berufsleben zu einem Burnout führt, kann im Ruhestand umschlagen in sein Gegenteil: das „Boreout“ (von boredom im Englischen = gelangweilt sein) – mit vergleichbaren oder sogar noch krasseren psychischen Symptomen. Wir sollten es nicht zulassen, dass Überforderung im beruflichen Alltag durch eine eklatante Unterforderung während der Rentenzeit abgelöst wird. Sondern für eine Balance im Sinne eines ausgewogenen Lebensplanes mit persönlichen und beruflichen Highlights und frei von psychischen Störungen sorgen.
Mit diesen Überlegungen zu „Ist es radikal, bis 80 zu arbeiten“ (so der Titel des Artikels von o. g. Journalistin) würde auch ein Stück weit die Vorstellung des Ruhestandes als (finales) Lebensziel entmystifiziert werden können. Und wer – aus welchen Gründen auch immer – frühzeitig verstirbt, hatte dann bereits viele Möglichkeiten, sein Leben zu leben. Vielleicht kann ein derartiger Lebensplan in den turbulenten Zeiten der uns umgebenden „VUKA-Welt“ (siehe auch mein Blogartikel unter: https://wp.me/p7Pnay-1DW) auch zu einem besseren Verständnis zwischen den Generationen beitragen, denn Grenzen zwischen ihnen würden verschwimmen oder sogar ganz verschwinden.
Um all dies für die große Masse der Menschen umzusetzen, sind natürlich gewaltige gesellschaftliche Veränderungen nötig und völlig neue Rahmenbedingungen zu schaffen. Leider können nur einige Wenige unter uns, z. B. freiberuflich Tätige, einen vergleichbaren Lebensweg beschreiten. Doch sie sollten es versuchen: den Weg einer lebenslangen Work-Life-Balance zu beschreiten …
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße
Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de
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