Vor ein paar Jahren traf ich einen leitenden Angestellten einer pharmazeutischen Vertriebsgesellschaft in Berlin. Ein symphatischen Mittfünfziger. Wir hatten uns als Kontakte auf der professionellen Plattform XING gefunden und wollten es nicht bei einem „anonymen Arbeitsverhältnis“ im Netz belassen. Im abendlichen Gespräch „beichtete“ er mir, dass es ihm schwerfiele, sein Leben in Worte zu fassen – fand er es doch aufschreibenswert. Aber seine Talente dahingehend wären beschränkt … Da ich recht gut vernetzt bin, konnte ich Herrn X am nächsten Tag eine Frau empfehlen, die Interviews mit reiferen Menschen anbietet und daraus auf Wunsch Lebensgeschichten für andere niederschreibt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht ernsthaft darüber nachgedacht, derartige Interviews selbst zu führen und Lebensgeschichten ggf. sogar für andere Menschen aufzuschreiben. Im Laufe meiner Workshopentwicklungen wurde mir aber immer klarer, dass die Arbeit mit der persönlichen „time-line“ nicht nur das eigene Wohlbefinden stärken, sondern auch Ideen für die dritte Lebenszeit zutage fördern kann. Außerdem, so wurde mir bewusst, führt die Beschäftigung mit der eigenen Biografie zu tiefgreifenden Erkenntnissen darüber, wer man ist und warum man gerade der geworden ist, der man ist. Frühe seelische Traumata werden erkennbar und deren Folgestörungen können leichter therapeutisch behandelt werden. Selbst Depressionen und leichte Demenzen lassen sich mit Hilfe von Biografiearbeit, u. a. durch die damit verbundene Verbalisierung und Visualisierung, positiv beeinflussen.

Ein Lebensrückblick ist zum einen die narrative Aktualisierung des eigenen Lebenslaufes. Man erkennt den roten Faden der persönlichen Historie, trifft gedanklich und bildlich auf Menschen und Situationen, die als kraftvolle Ressourcen für die Zukunft genutzt werden können. Zum anderen ist der Lebensrückblick eine Art Bewältigungsstrategie für uns, indem wir wahrnehmen, welche Ereignisse und Vorkommnisse unser Leben in welcher Form, Intensität und Richtung beeinflusst haben. Wir setzen uns in der Regression auseinander mit uns selbst, verstehen und verarbeiten Gewesenes besser. Im optimalen Fall beginnen wir gewisse persönliche Entwicklungen zu verstehen und zu akzeptieren. Oder anders gesagt: Wir werden uns der komplexen Dramaturgie und der Kausalitäten unseres Daseins bewusst. Nicht zuletzt hilft uns diese Rückschauarbeit dabei, gewisse Biografielücken aufzufüllen. Auch wenn diese nicht immer objektiv belegbar sind, so runden sie doch das Gesamtbild des vergangenen Lebens ab und sichern ihm seine Plausibilität, seinen Wirkzusammenhang und seine Glaubwürdigkeit.

Doch irgendetwas fehlte. Das persönliche Buch des zurückliegenden Lebens zu schreiben war die eine Sache. Eine andere, das zukünftige Leben zu „reflektieren“. Als 2016 meine Resilienztrainerausbildung begann, stellte man mir die Aufgabe, mir selbst einen persönlichen Brief aus der Zukunft zu schreiben. Eine Art „backforward letter“ oder: „Blick-zurück-nach-vorn-Brief“. Sozusagen aus einer imaginär bereits vollendeten Zukunft.

Für mich hatte das einen ganz besonderen Reiz. Um einen derartigen Brief zu schreiben, musste ich erst einmal Ziele definieren und Zukunftspläne entwickeln. Ich war gezwungen, mich hineinzuversetzen in mein kommendes Leben, in meine zukünftigen Begegnungen und in fiktive Ereignisse. Und ich war gleichzeitig aufgefordert zu überprüfen, ob meine Ziele erreicht worden waren oder verworfen wurden. Das gab mir die einzigartige Möglichkeit, meine Zukunft mental durchzuspielen und gleichzeitig auf mögliche Fehler und ihre Realisierungswahrscheinlichkeit zu überprüfen.

Wenn man eine derartige Aufgabe gestellt bekommt, erfüllt sie gleich mehrere Aufgaben: Einmal wird man biografisch tätig (mit Zukunfts-, nicht mit Rückschaublick!), man setzt sich mit seinen Visionen auseinander und zieht zugleich ein Resumee darüber, ob die selbstgesetzten Ziele erfüllend und sinnvoll waren. Zum anderen beleuchtet man seine Zukunft selbstkritisch und hat die Möglichkeit, aus dem Heute heraus bereits Zielgedanken zu verwerfen, die das zukünftige Ich vielleicht nicht zufrieden stellen könnten.

Spannend wird es dann, wenn man die Notizen ein paar Jahre später wieder ausgräbt und auf ihre tatsächliche Umsetzung hin überprüft. Was ist tatsächlich eingetreten, welche Idee hat Fuß fassen können in der Realität, was war von vornherein nur eine zweifelhafte Illusion? Und so gehören zur Arbeit an mir selbst, aber auch zur Arbeit mit Teilnehmern oder Coachees, immer drei Etappen der biografischen Aufarbeitung: die Rückschau in die Vergangenheit, die Momentaufnahme im Hier und Heute und die Vorschau auf das Kommende – am besten mit einem Brief aus der Zukunft!

Ich möchte Sie hiermit ermutigen, sich selbst einen solchen Brief aus der Zukunft zu schreiben. Denken Sie sich in eine Zeit in fünf oder zehn oder 15 Jahren hinein. Schauen Sie aus der Perspektive Ihres noch reiferen Ichs zurück und reflektieren Sie die „kommende Vergangenheit“! Ich selbst habe meine Notizen aus dem Jahr 2016 (erstmals nach nunmehr fast 5 Jahren) mit großem Interesse und einiger Ehrfurcht gelesen …

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße

Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren

© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de