
Das Netz ist voll von Angeboten an Online-Seminaren, geradezu viral verseucht, möchte man meinen. Jeder, der nur halbwegs meint, sein Wissen in diesen Zeiten verbreiten zu müssen, wird zum Anbieter von digitalem Sendungs-Wissen. In einer Krisensituation, die wenig oder keinen unmittelbaren Kontakt zwischen Mentoren und Teilnehmern zulässt, gerät die Übertragung via Bildschirm zu einer Art Allheilmittel. Die weitgehend erzwungene Isolation, die analoge Vereinsamung, greift auf das letzte Hilfsmittel zurück, das uns geblieben ist zur zwischenmenschlichen Kommunikation. Manch Anbieter von Zahlen Daten Fakten hofft, die coronaverkeimte Zeit überbrücken zu können mit den technischen Diensten der digitalen Welt. Dahinter verbirgt sich natürlich auch der Zwang, das weggebrochene Präsenzgeschäft zumindest partiell auszugleichen und einen gewissen Deckungsbeitrag zu erwirtschaften.
Der handfeste Druck auf das Beratungs- und Trainingsgeschäft in Coronazeiten treibt aber auch eine Menge eigenartiger Blüten. Unzählige Anbieter preisen ihre Offerten als zukunftsweisend und alternativlos an und versprechen dieselbe, wenn nicht sogar eine höhere Effektivität und Wirksamkeit, wie ihre bisherigen Liveauftritte. Dabei entpuppen sie sich oftmals als lose Abfolge von Powerpoint-Präsentationen, die eins zu eins aus dem Seminar in den digitalen Raum transformiert wurden. Leblos und steril kommen viele von ihnen daher und ermüden bereits nach einer Viertelstunde den enttäuschten Teilnehmer, der sich dann gelangweilt oder genervt kommentarlos ausklinkt.
Eine große Anzahl von Webinarankündigungen suggeriert den Transport von Fachinhalten, stellt jedoch in der Realität nur didaktisch fragliche Anleitungen darüber zur Verfügung, wie man ein Webinar strukturieren und technisch bewerkstelligen kann. Wie die eigentliche Botschaft attraktiv und spannend vermittelt werden kann, bleibt weitgehend im Dunkeln. Viele aufwendig titeloptimierten Events sind inhaltlich weitgehend unpersönlich gestaltet: Man sieht zu Anfang den Trainer/Berater/Coach für einige Minuten auf dem Bildschirm – und danach eine schier endlose Abfolge lieb- und einfallslos beschriebener Textseiten. Aktivierende Unterrichtsmethodiken, ein abwechslungsreicher Webinaraufbau und unterhaltsame Mitmachübungen sind oftmals Mangelware. Lustvolles Lernen geht meiner Meinung nach anders …

In der aktuellen Ausnahmesituation versucht man uns vielfach einzureden, dass jedes beliebige Thema, jede Fertigkeit und Fähigkeit digital transformierbar und vermittelbar sei. Selbst die Ausbildung zum Trainer oder Coach ist davon nicht ausgenommen. Als ich 2019 zum zertifizierten Online-Trainer ausgebildet wurde, staunte ich zwar nicht schlecht, was alles über die zweidimensionale Bildschirmoberfläche transportiert und vermittelt werden kann. Gleichzeitig erkannte ich aber auch, dass es umfangreiche Einschränkungen in der gegenseitigen Kommunikation und in den Beziehungen zwischen den Protagonisten eines solchen Events gibt. Neben dem möglichst reibungslosen technischen Ablauf (Testen!) sollte ein wohldurchdachtes, spannendes und attraktives Konzept hinter jedem Webinarauftritt stehen.
Der Coach und Weiterbildner Jürgen Graf, der jährlich im Auftrage der managerSeminar Verlags GmbH eine Studie mit etwa 1000 Teilnehmern herausgibt, hat für 2019 festgestellt, dass Webinare/Virtual Classrooms lediglich 20,5% aller Organisationsformen für Seminare und Workshops ausmachen. Formate, wie Moderation, Gruppen-/Teamcoaching, praktische Anleitung und Übung liegen mit Werten zwischen 78% und 67% immer noch weit darüber. Auch das Online-Coaching steht bei den Beratungssuchenden in der Formatgunst mit etwa 22% fast abgeschlagen am Ende …

Ein Webinar bringt – das ist meine innerste Überzeugung – nicht das, was wir Menschen in dieser Zeit wirklich brauchen: menschliche Wärme. Im Gegenteil. Es besteht die große Gefahr, dass mit der massenhaften Etablierung des Webinar(un)wesens auch noch der letzte Rest persönlicher Beziehung zwischen Trainer und Teilnehmer verloren geht. Nach den Zeiten verordneter Sozialsperren sollten wir schnell wieder im analogen Raum menschlicher Direktbeziehungen auftreten. Allerdings steht nach der Universalisierung von Webinaren zu befürchten, dass zukünftig immer mehr Auftraggeber von Seminaren und Workshops den digitalen Arbeitsraum bevorzugen werden. Zum einen, um den vermeintlichen Kostenberg abzutragen, der durch das körperliche Qutsourcing der Teilnehmer aus dem Arbeitsprozess hinein in die Seminarräume entsteht. Zum anderen, weil die Aneignung von Wissen und Fähigkeiten nun asynchron und damit auch außerhalb der Arbeitszeit der Arbeitnehmer geschehen kann. Für Berater, Trainer und Coaches bedeutet das in der Konsequenz, dass die Anzahl ihrer Präsenzauftritte erheblich schrumpfen wird und damit die Honorare zur Existenzsicherung nicht mehr ausreichen – sind doch die Webinare beliebig kopier-, wiederhol- und abrufbar – und vor allem: meist nur ein Mal bezahlt. Die Auswirkungen auf den Trainermarkt wären verheerend.
Die aktuelle Situation hat mich dazu bewogen, meine bereits in Vorbereitung befindlichen Webinare zurückzustellen und kritisch zu überdenken. Um einerseits in der zunehmend unübersichtlichen Masse der Anbieter nicht völlig verlorenzugehen und andererseits nicht in Konkurrenz mit denen zu treten, die sich mit Online-Seminaren existenziell über Wasser halten müssen.
Immer offen für eine sachlich-kritische Diskussion und mit vielem Dank für das Interesse sowie besten Grüßen
Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für Senioren
© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de
Kommentar verfassen