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Wenn man vom „Drei-Instanzen-Modell“ der Psyche von Siegmund Freud ausgeht, dann befindet sich das ICH, unser Verstand, im Spannungsfeld unseres ES, das dem Lustprinzip folgt, und unseres ÜBER-ICHs, das als moralische Instanz arbeitet. Um in diesem Zwiespalt, diesem Kontrast, eine reelle Überlebenschance zu haben, hat sich unser Gehirn Kompensations- und Bewältigungsmechanismen zugelegt, die innerseelische und zwischenmenschliche Konflikte verarbeiten können. Es ist wohl Anna Freud, der Tochter des großen Psychoanalytikers zu verdanken, dass wir heute über eine umfangreiche Vielfalt von gut beschriebenen und alltagstauglichen Abwehrmechanismen verfügen, die verständlich und einleuchtend sind.

In loser Folge versuche ich – belegt u. a. durch Alltagsbeispiele – die jeweiligen Abwehrmechanismen zu erläutern. Manche kommen auf uns zu in milder Ausprägung. Ab und an treten sie aber auch in krankhafter, paranoider Form auf. Dann sind sie zwingend behandlungsbedürftig. Grundsätzlich gilt: Das gleiche Verhalten kann mal das eine, mal das andere sein. Entscheiden kann man nur, wenn man die Details der jeweiligen Situation beachtet und das Motiv, das hinter dem Verhalten steckt, erkennt.

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IDENTIFIKATION mit dem Aggressor
Der Identifikation mit dem Aggressor gehen oftmals zwei andere, leichtere Abwehrmechanismen voraus: die IDEALISIERUNG und die UNTERWERFUNG. Zu Anfang ist das Kritikvermögen an einer Person oder Gruppe sehr niedrig; man sieht nur noch die positiven Seiten und verzichtet auf Konkurrenzimpulse: „Es lebe der Chef! Er ist der Größte!“ oder „Du bist die allerbeste Frau der Welt!“ Einem idealen Menschen muss man sich bedingungslos unterordnen. Denn das Risiko eigenen Denkens ist zu groß bei Menschen mit hoher Autorität und Expertise. Zum Beispiel ist der Beitritt zu einer extremen politischen Gruppierung der beste Schutz vor Ausgrenzung, Denunzation oder Gewalt durch dieselbe.

Es kommt zu einer Selbstzuschreibung oder gar Übernahme von Verantwortung für gewaltsame Übergriffe. Psychische und physische Grenzüberschreitungen werden gutgeheißen. Die Einstellung und das Verhalten des Angreifers werden übernommen, weil aggressive Gefühle und Impulse gegen die vermeintliche „Autorität“ nicht ohne Gefahr des eigenen Untergangs ausgelebt werden können.

Als Beispiel steht das sog. „Stockholm-Syndrom“, bei dem die Geiseln eines Banküberfalls im Jahre 1973 zu den Verbrechern ein positives emotionales Verhältnis aufbauten, mit ihnen sympathisierten und sich sogar solidarisierten. Die Geiseln entwickelten außerdem eine größere Angst vor der Polizei, als vor den Geiselnehmern. Eine extreme Form der Identifikation ist die Radikalisierung Einzelner, die sich nicht etwa gegen den idealisierten Aggressor richtet, sondern gegen Gruppenfremde.

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VERLEUGNUNG
Verleugnung ist die Tatsachenignorierung des realen Geschehens. Äußeres, wirkliches Geschehen wird in seiner Bedeutung nicht (an)erkannt, weil es zu konflikthaft sein könnte, um akzeptiert zu werden. Verleugnet wird persönliches Erleben auch dann, wenn das Eingeständnis tatsächlicher Umstände oder Verhaltensweisen zu erheblichen Nachteilen gereichen kann.

Dass ich neidisch auf den neuen Porsche meines Nachbarn bin, würde ich mir selbst und anderen gegenüber niemals offen eingestehen. In Gerichtsprozessen kann man trotz umfangreicher Indizien und schwerer Beweislage das Leugnen von Tätern beobachten. Sie plädieren auf: „Nicht schuldig!“ Auch Politiker können mit dem Werkzeug des Verleugnens gut umgehen, obwohl z. B. ein Filmbericht klare Aussagen liefert. Wir ducken gern ab nach der „Vogel-Strauss-Methode“ und tun so, als ob eine Tatsache mit dem „Kopf-in-den-Sand-stecken“ plötzlich nicht existierte.

Zwischen dem Verleugnen und dem Verdrängen gibt es einen entscheidenden Unterschied: Ein verdrängter Inhalt ist dem Verstand gerade nicht zugänglich, kann jedoch bewusst gemacht werden. Ein verleugneter Inhalt ist sehr bewusstseinsnah – er wird wissentlich ausgeblendet.

Die nächsten beiden Abwehrmechanismen, über die ich praxisbezogen im nächsten Themenbeitrag schreiben werde, sind die REGRESSION und die RATIONALISIERUNG. Wer den Startbeitrag lesen möchte – hier geht es lang: https://wp.me/p7Pnay-2rp. Und den Beitrag über PROJEKTION und VERDRÄNGUNG finden Sie hier: https://wp.me/p7Pnay-2rY. Zur PSYCHOSOZIALEN ABWEHR und zur REAKTIONSBILDUNG folgen Sie bitte diesem Link: https://wp.me/p7Pnay-2sJ. UNGESCHENMACHEN und KONVERSION finden Sie unter: https://wp.me/p7Pnay-2t8

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße

Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für Senioren

© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de