
Das ist die große Frage! Im Werk „Die deutsche Ideologie“ von Karl Marx und Friedrich Engels gibt es eine Passage, die auf den ersten Blick recht belanglos erscheint. Das Buch war 1845/1846 konzipiert als Gegenentwurf zu den tradierten politischen Strömungen, die den Philosophen die Veränderungshoheit der Welt zuschrieben und nicht der aktiven Gestaltungskraft des Proletariats. Besagte Passage beschreibt oberflächlich betrachtet eine Idylle, in der Menschen ihren ureigenen Neigungen und Bedürfnissen nachgehen …

Sie handelt von Selbstbestimmung und individuell gestaltetem Leben. Von Sehnsüchten und Freiheiten, die uns während unserer Lohnerwerbsphase nicht zustanden, vom Bruch mit entfremdender Tätigkeit. Und sie wurde bekannt, ja vielleicht auch berühmt durch ein Buch, das der angesehene deutsche Philosoph der Jetztzeit, Richard David Precht, im Jahre 2018 im Goldmann Verlag München vor dem aktuellen Hintergrund der Digitalisierung herausbrachte. Unter anderem deshalb, weil sie uns aufzeigt, dass Lohnarbeit das eigentliche Übel für Ausbeutung, Fremdbestimmung und Abhängigkeit ist. Es ist die Rede von Jägern, Fischern, Hirten und Kritikern. Von archetypischen, sehr menschlichen und praktischen Berufen, oder besser Berufungen. Und vom Gegenentwurf zu Lohnarbeit, Spezialisierung und Arbeitsteilung.
„Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben und nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ (Marx/Engels, „Die deutsche Ideologie“, Manuskriptkonvolut 1845/1846, Marx-Engels-Werke, Band 3, Dietz Verlag, Berlin, DDR, 1973)

Hört sich an wie Müßiggang. Man kann es aber auch Freitätigkeit im besten Sinne nennen, wie es z. B. Prof. Leopold Stieger aus Wien tut. Eine lohnunabhängige Beschäftigung, die meinen Bedürfnissen, Sehnsüchten und Wünschen – ja meiner ureigenen intrinsischen Motivation – entspricht. Gibt es hier nicht sehr direkte Parallelen zwischen dem Wesen des Kommunismus und dem Leben im Ruhestand? In einem Lebensabschnitt, in dem ich frei von Zwängen bin und all das tun und lassen kann, was ich gern tue, ohne diese Tätigkeiten gelernt oder gar studiert haben zu müssen? In die mir niemand hineinredet oder die Erfüllung von Leistungsvorgaben einfordert? Und was ganz wichtig ist: Mir die (Wahl-)Freiheit einzuräumen, die ich für ein erfülltes Leben benötige.
Dass die Vordenker des Kommunismus gerade archaisch anmutende Berufe als Tätigkeitsoptionen ins Feld führen, liest sich gestern wie heute wie eine aktuelle Allegorie. Sie steht sowohl im scharfen Kontrast zum damaligen Zeitalter der Dampfmaschinen wie auch zur Ära der Digitalisierung. Und drückt doch für beide Epochen das Streben und Sehnen nach authentischer, bodenständiger Betätigung aus, die viele von uns im Ruhestand als handfesten Ausgleich oder auch als späte Kinderwunscherfüllung suchen.
Das, was Marx und Engels etwas unscharf und grauzonig als „allgemeine Regelung der Produktion durch die Gesellschaft“ bezeichnen, könnte für den Ruhestand bedeuten, dass der Staat im Background die durch die Jungen erwirtschafteten materiellen Güter zu finanziellen Mitteln für die Rente sozialisiert. Wobei mir an dieser Stelle auch gleich ein Buzzword in den Sinn kommt: das bedingungsloses Grundeinkommen (BGE). Gerade jetzt wieder erregen sich die Koalitionsgemüter über das Thema Grundrente – ein noch unausgereifter, aber erster Schritt in Richtung BGE. Und wenn ich mir den Entwicklungsgang des Kapitalismus von Manchester bis heute durch den Kopf gehen lasse, dann stelle ich mit einer gewissen Genugtuung fest, dass sich in unserem Staat immer mehr linke, sozialismusaffine Tendenzen durchsetzen. Vielleicht ist ja die virale Krise auch eine Art Katalysator für derartige Entwicklungen.

Wer hätte das gedacht: Der Ruhestand als ein Blaupause der kommunistischen Ideale ihrer Gründerväter. Dabei nimmt nicht etwa die Abschaffung von Privateigentum den bestimmenden Raum ein, sondern die Selbstverwirklichung des Menschen! Die persönliche, von Lohnarbeit unabhängige, selbstbestimmte Tätigkeit, die erst am Ende der persönlichen Entwicklung all das realisieren darf, was den eigenen Idealen am besten entspricht, nachdem es vorher, im Berufsleben, weitgehend entmündigt, entfremdet und abtrainiert wurde. Wie anschaulich und zeitgerecht!
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße
Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für Senioren
© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de
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