Grafik: Pixabay + Wolfgang Schiele

Wenn man vom „Drei-Instanzen-Modell“ der Psyche von Siegmund Freud ausgeht, dann befindet sich das ICH, unser Verstand, im Spannungsfeld unseres ES, das dem Lustprinzip folgt, und unseres ÜBER-ICHs, das als moralische Instanz arbeitet. Um in diesem Zwiespalt, diesem Kontrast, eine reelle Überlebenschance zu haben, hat sich unser Gehirn Kompensations- und Bewältigungsmechanismen zugelegt, die innerseelische und zwischenmenschliche Konflikte verarbeiten können. Es ist wohl Anna Freud, der Tochter des großen Psychoanalytikers zu verdanken, dass wir heute über eine umfangreiche Vielfalt von gut beschriebenen und alltagstauglichen Abwehrmechanismen verfügen, die verständlich und einleuchtend sind.

In loser Folge versuche ich – belegt u. a. durch Alltagsbeispiele – die jeweiligen Abwehrmechanismen zu erläutern. Manche kommen auf uns zu in milder Ausprägung. Ab und an treten sie aber auch in krankhafter, paranoider Form auf. Dann sind sie zwingend behandlungsbedürftig. Grundsätzlich gilt: Das gleiche Verhalten kann mal das eine, mal das andere sein. Entscheiden kann man nur, wenn man die Details der jeweiligen Situation beachtet und das Motiv, das hinter dem Verhalten steckt, erkennt.

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SUBLIMIERUNG
Siegmund Freud betrachtete die Sublimierung als die reifeste Abwehrreaktion des Menschen. Denn sie kann Handlungen, die an Hindernissen scheitern, auf eine völlig neue Stufe heben und kreative Kräfte freisetzen. Bei der Sublimierung werden unerfüllte Wünsche und Triebe durch gesellschaftlich akzeptierte Ersatzhandlungen substituiert und damit befriedigt. Dadurch, dass Sublimationen Triebwünsche gut kompensieren können, bleiben sie meist ungefährlich für die Umgebung. Es gibt jedoch auch Ausnahmen …

Als positives Beispiel dient Sport (Boxen, Ringen, Fechten …), der aggressive Triebe kompensieren kann oder die schönen Künste (Aktmalerei), die sexuelle Wünsche ausgleichen können oder eine spannende Wissenschaft, die die kindliche Neugier stillt. Schaden kann die Sublimierung dann anrichten, wenn der Feuerwehrmann für seinen heldenhaften Rettungseinsatz selbst zum Pyromanen wird oder der Altenpfleger aus Rache für die verstorbene Oma eine Überdosis verabreicht und Senioren verletzt oder tötet.

Obwohl Sublimation ein kreativer Weg im Umgang mit frustrierten Bedürfnissen ist, kann auch sie krank machen. Das zeigt sich bei Menschen, die sich in exzessive Arbeit stürzen, weil ihnen in anderen Lebensbereichen z. B. Dank und Anerkennung verweigert wurde.

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DEREALISATION
… ist die verfremdete Wahrnehmung der menschlichen und sachlichen Umwelt. Sie kann temporär oder auch dauerhaft auftreten. Die umgebende Welt erscheint dabei als Ganzes unwirklich, fremdartig und/oder räumlich verändert, auch wenn die Details eindeutig erkannt und zugeordnet werden können. Die Integrität, das Einheitserleben und eine klare Grenze zwischen dem eigenen Ich und der Umwelt sind nachhaltig gestört. Die Art der Umweltveränderung kann symbolischen Charakter haben und als bedrohlich erlebt werden.

„Ich denke, ich bin im falschen Film“, könnte ein Kommentar auf diesen Abwehrmechanismus lauten. Leichtere Derealisationserleben können entstehen durch Situationen mit hohem emotionalen Inhalt, bei Müdigkeit oder in Erschöpfungszuständen. Sie werden u. U. auch ausgelöst durch die Einnahme psychotroper Substanzen. Schwerere Derealisiationen sind nicht selten Begleiterscheinungen von Angststörungen oder Panikattacken.

Die Derealisation steht in engem Zusammenhang mit der DEPERSONALISIERUNG, bei der der Mensch sich selbst gegenüber fremd und unwirklich vorkommt. Treten beide Zustände gleichzeitig auf, spricht man von einer Wahnstimmung, die Begleitsymptom einer Depression oder gar Schizophrenie sein kann.

Die nächsten beiden Abwehrmechanismen, über die ich praxisbezogen im nächsten Themenbeitrag schreiben werde, sind die AFFEKTISOLATION und die SPALTUNG. Wer den Startbeitrag lesen möchte – hier geht es lang: https://wp.me/p7Pnay-2rp.

Hier finden Sie die weiteren Beiträge zu den Abwehrmechanismen unserer Psyche:
PROJEKTION und VERDRÄNGUNG: https://wp.me/p7Pnay-2rY. PSYCHOSOZIALE ABWEHR und REAKTIONSBILDUNG: https://wp.me/p7Pnay-2sJ.
UNGESCHENMACHEN und KONVERSION: https://wp.me/p7Pnay-2t8.
IDENTIFIKATION und VERLEUGNUNG: https://wp.me/p7Pnay-2tE.
REGRESSION und RATIONALISIERUNG: https://wp.me/p7Pnay-2u4.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße

Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für Senioren

© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de