Lange habe ich mich verleugnen lassen, was die öffentliche Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation um Corona & Co. betrifft. Ich war vor knapp einem Jahr in verhaltenem Aufruhr wegen der zu erwartenden (psychischen) Folgen und habe mich selbst als zukünftig seelisch und körperlich beschädigter Bürger dieser Republik gesehen. Just zu verflossener Februarzeit hatte ich mir selbst eine längere Blutdruck-Messreihe verordnet, weil mein Hausarzt Wochen zuvor einen (sitzungsbedingt?) überhöhten Wert festgestellt hatte. In den Februarwochen blieben die Messdaten im hochnormalen Bereich hängen – wen wunderts, hält man sich die traumatisierenden und widersprüchlichen Kommentare der Nicht- und Besserwissenden vor Augen.

Jetzt schreiben wir wiederum Februar und ich muss gestehen: Trotz aller Versuche, das Informationschaos auszublenden und umzudeuten, es mit Affirmationen zu neutralisieren oder mit gelassener Ignoranz zu strafen – ein gewisses Maß an Corona-Burn-out kann ich nicht abstreiten und schon gar nicht abstreifen. Der Soziologe Hartmut Rosa nennt es fast schon prosaisch den „Corona-Mehltau“, den man nicht ohne Weiteres abschütteln kann. Ich bin sicherlich neben vielen anderen Mitbürgern in einer Zeit der realen Abwesenheit angekommen: Ein Virus, das das soziale Leben infolge seiner Lebensbedrohlichkeit und Hartnäckigkeit sowie dank gesellschaftlicher Dauerbewusstmachung lähmt, unterwandert, destabilisiert und dauerhaft beschädigt, hat das mit seiner Hartnäckigkeit geschafft.

Kein Wunder, immerhin ist es die erfolgreichste Lebensform auf unserer Erde, wenn nicht sogar im ganzen Universum. Es hat die vergangenen vier Milliarden Jahre durch seine überragende Adaptabilität nicht nur überdauert, sondern eine Varianz und Perfektion entwickelt, von der wir als „hochentwickelte“ Zivilisation nur träumen können. Wären wir so gewandt, agil und anpassungsfähig wie dieser Vorstoffwechsler, müssten wir uns keine Gedanken über den Klimawandel machen. Das Virus hat unser „soziales Miteinander zum Hauptinfektionsrisiko“ gemacht, wie Christine Lemke-Matwey in einem ZEIT-Artikel schreibt. Ist das die „Strafe für das Feuer des Prometheus“, mit dem wir nicht umgehen können oder wollen? Es hat uns gewürgt, kaserniert und uns gezeigt, dass die Welt keineswegs so faltenfrei und bügelglatt sei, wie man uns bisher glauben machen wollte. Oder anders: Dass die Zeit vor Corona die Ausnahme war, und die jetzige Situation die eigentliche Normalität darstellt. Mit dieser Erkenntnis sind wir erstarrt zwischen verordneter Kontakteinschränkung und selbstgewählter Apathie. Mit fatalen seelischen Folgen, die erst einmal hintenanstehen.

2020 war für mich das „stagnierendste aller Jahre“. Zuerst habe ich den Verlockungen von Online-Seminaren widerstanden und habe sie lediglich als (rettenden) Notnagel gegen die Existenzbedrohung, vor allem von Solounternehmern, empfunden. Als technische Hilfskrücke und Selbstbefriedigungsersatz von IT-Nerds, die nun endlich alle Register der Digitalisierung ziehen konnten und uns damit noch schneller entsozialisieren als das Virus selbst. Ich habe dagegen gewettert und gaaaanz tief in die Argumentationskiste der Präsenzbefürworter gegriffen. Beflügelt vom verordneten „social oder physical distancing“ erfährt die digitale Gesellschaft einen Schub, der ohne das C-Phänomen nie ausgelöst worden wäre. Es droht uns eine herbe Niederlage im Kampf für eine analoge Menschlichkeit.

Grafik: Pixabay

Als wir in die Pandemieschleife hineinschlidderten, da vernahm ich allerorten, dass die „Welt danach“ nie wieder so sein werde, wie am Beginn der Seuche. Hinter dieser Vision stand die Überzeugung, dass sich die Menschen wieder an menschlichen Werten orientieren würden, größere Rücksicht auf sich, auf andere und auf die Welt nehmen würden. Und sich im Angesicht einer Naturkatastrophe solidarischer und empathischer verhielten. Diese Einstellung haben die Bekennenden leider nur wenige Wochen lang durchgehalten, weil sich die Bekehrung der Welt nicht als Selbstläufer erwies. Der hehre Prozess der Weltverbesserung geriet ins Stocken, weil wir schnell erschöpft waren von den Anomalitäten des täglichen Lebens. Und plötzlich verblassten die visionären Schriftzüge einer geläuterten Welt hinter einem Nebel aus Verunsicherung, Planlosigkeit und Depression. Wir waren von uns selbst enttäuscht und sahen in allem und jedem einen potenziellen Feind, der uns körperlich und rhetorisch zu nahekam.

Es ist ein hinterhältiger Sieg, den das Virus erringt. Nachdem es erst Zwist und Misstrauen zwischen die Menschen gebracht und einen exzessiven Prozess der Entsozialisierung in Gang gesetzt hat, zwingt es uns jetzt zu Ersatzmaßnahmen im Sozialverhalten. Das, was nach staatlichen Eingriffen ins gesellschaftliche Leben noch übrigbleibt, wird kassiert durch die Digitaltechnik. Die Kompensation des leibhaftigen Umgangs durch digitale Medien behindert die Rückkehr zu Sozialkontakten langfristig mehr, als dass sie sie befördert.

Viele Trainer, Berater und Coaches haben sich (zuvorderst aus existenziellen Gründen) ein- und umgestellt auf Online-Events. Geradezu euphorisch preisen sie jetzt die Möglichkeiten, die die digitalen Tools, Formate und Methoden bieten, um erfolgreich mit Menschen arbeiten zu können. Gerade diejenigen, die vor gar nicht allzu langer Zeit zwingend von therapeutischer Allianz und persönlicher Nähe im Trainings- und Coachingkontext sprachen, loben und umwerben jetzt überschwänglich die Potenziale virtueller Techniken. Letztlich ist es schon beeindruckend, was Technik, Ideenreichtum und Überlebenswille zustande gebracht haben. Doch der unmittelbare soziale Kontakt droht für immer verloren zu gehen. Die Gefahr, dass die Ersatzlösung Online-Event zum Maßstab wird, ist unübersehbar. Noch freuen sich viele Beratende wie kleine Kinder über ihre neuen Spielzeuge. Doch entfernen sich die Protagonisten – Coachende und Gecoachte, Trainierende und Trainierte – weiter und weiter voneinander weg. Und schaut man genauer hin, so spürt man die unterdrückte Sehnsucht nach seminaristischer Nähe, nach unmittelbarer Kommunikation und individuellem Austausch. Der Drang hin zur unmittelbaren Beziehung anstelle zum imaginären Kontakt wird spürbarer. Und sollte sich echter Sozialkontakt wieder durchsetzen dürfen – er würde dankend angenommen durch alle Betroffenen … Teeküchengespräche sind nun mal nicht ersetzbar durch Kaffeepausenfolien auf dem Monitor, der Schlussapplaus nach einem gelungenen Workshop nicht durch das anonyme Winken der in Galerieformation angeordeneten Teilnehmer auf dem Bildschirm und die Übergabe eines persönlich gewidmeten Buches nicht durch einen textlichen Hinweis auf die Verlagsadresse im Abspanntext der Power-Point-Präsentation.

Ich denke, dass die digitale Technik ein Mittel zum Zweck und eine Interimslösung für Zeiten der sozialen Kontaktspaltung ist. Ein Hilfsmittel, mit dem wir uns zwar weiterentwickeln können in unseren Wahlmöglichkeiten, aber auch gleichzeitig menschlich unmerklich voneinander entfernen. Lassen wir die virtuellen Seminare und Coachingsitzungen nicht zum bequemen und kostensparenden Standard werden, wenn das gesellschaftliche Leben wieder Auferstehung feiert.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße

Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für Senioren

© Wolfgang Schiele 2021 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de