
„Wer hat denn dieses Eselsohr in die Buchseite geknickt?“, lautete die Frage der Lehrerin. Beschämt schaute der Schüler zur Seite und entgegnete kleinlaut: „Das war schon so als ich es bekommen habe!“ Eselsohren waren ein Grund, im Fach Ordnung, das zu meiner Schulzeit zu den sog. Kopfnoten gehörte, eine schlechtere Zensur zu bekommen. Es war auch deshalb verpönt, weil Kinder aus den weniger bemittelten Familien die Bücher nur ausgeliehen bekamen und zum Schuljahresende wieder zurück in den Schulbuchpool geben mussten. Hätte jeder in den Schulsachen herumgeschmiert und Ecken eingeknickt – sie wären nach einigen Jahren kaum noch zu gebrauchen gewesen.
Ich hatte das große Glück, eigene Schulbücher zu besitzen. Zwar war das in den 60er Jahren eine recht ordentliche finanzielle Belastung für die Familie. Die aber bestand darauf, dass die Bücher mit dem Wissen mir allein gehören sollten. Und so sah ich es als ein Privileg an, sie zu einem echten Arbeitsmittel umzugestalten, Unterstreichungen und Kommentare vorzunehmen und eben auch mannigfaltige Eselsohren anzubringen. Meine Eltern duldeten meine Vorgehensweise, waren doch die Markierungen ein Beleg dafür, dass ich mit den Büchern intensiv arbeitete.

Die Markierungsmethode hat sich bei mir bis heute hartnäckig gehalten – und wurde sogar noch verfeinert. Alle Bücher, die ich lese, sehen nach ihrer „Durcharbeitung“ wie ihr eigenes Manuskript aus. Bei Workshops und in Seminaren, wo ich regelmäßig Bücher zum Thema als Anschauungsmaterial dabeihabe, warne ich schon mal meine TeilnehmerInnen wegen der kommentierten und markierten Seiten vor. Ja, Bücher sind bei mir Arbeitsmaterialien, und genauso müssen sie aussehen. Jetzt, wo ich mich ans Schreiben von eigenen Büchern gemacht habe, habe ich mir zur besseren Quellenwiederfindung ein regelrechtes „Eselsohren-System“ zugelegt.
Die Kniffe und Knicke, die ich links unten auf einer Doppelseite anbringe, signalisieren mir ein interessantes Zitat, das vielleicht in meinen Blogbeiträgen oder im aktuellen Buch Unterschlupf finden könnte. Die rechts unten auf einer Doppelseite angebrachten Markierungen weisen auf einen DOI- oder https://-Link hin, der später ins Literaturverzeichnis gehört. Ein Einfachknick rechts oben erinnert an eine gute Textpassage, die dann zum besseren Auffinden auch noch unterstrichen oder gemarkert oder beides ist. Wenn die linke obere Ecke einen Doppelknick hat, dann handelt es sich um eine essentielle Aussage, eine überaus wichtige oder sogar geniale These, die unbedingt noch einmal auf ihre Tauglichkeit als Leitsatz, Definition oder „Aha- Erlebnis“ geprüft werden muss. Sie zeugt von höchster Erkenntnistiefe oder literarischer Qualität.

Ich mag gedruckte Bücher. Sie werden durch das Einknicken der verschiedenen Ecken auch dicker und damit auch wertvoller für mich. Was ich nicht so mag, sind die sich rasant verbreitenden E-Books. Bei denen habe ich leider noch keine Möglichkeit der Eckenmarkierung oder „Vereselsohrung“ gefunden. Aber vielleicht erbarmt sich ein Entwickler von E-Book-Lesegeräten meiner und spendiert digitale Eselsohren in verschiedenen Ausführungen. Also ich könnte mir das so einige kreative Varianten vorstellen: aus unterschiedlichen Farben, mit kunstvollen Rändern und, und, und …
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!
Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2021 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de
Kommentar verfassen