Wie es der Zufall (?) so will …

Foto: Pixabay – Kiew, Denkmal für Bogdan Chmelnitzky

Ich stöbere zurzeit – da ich meine Prokrastination vor einiger Zeit überwunden hatte und ans Aufräumen ging – in den wiederaufgefundenen Tagebüchern meiner Jugend- und Studienzeit herum. Die Sammlung der bis zu 50 Jahre alten Aufzeichnungen umfasst die Zeit ab 1971 bis in die frühen Achtziger. Und irgendwie kommen die Erinnerungen zu dem Zeitpunkt zusammen, der in Europa nichts Gutes erahnen lässt.

Zum besseren Verständnis: Ich habe 1972 in der (meiner Meinung nach) zweitschönsten Stadt der ehemaligen Sowjetunion, in Kiew, ein Studium begonnen. Über diese Zeit existieren in den etwa 15 Tagebüchern sehr detaillierte und interne Notizen zum Leben in der Ukraine (die ich und meine Mitkommilitonen als integralen Bestandteil der Sowjetunion verstanden), zu den Animositäten der Zeit und zu den „Vorkommnissen“ bei der Auseinandersetzung mit dem real existierenden Sozialismus. Um im aktuellen Zusammenhang zu bleiben: Ich bekam gleich im ersten Studienjahr die agitative Macht der DDR-Hochschulgruppenleitung zu spüren, als ich meinte, in der Ukraine gewisse nationalistische Bestrebungen und Tendenzen zu erkennen. Das konnte und durfte natürlich in einem sozialistischem Bruderland nicht sein und man versuchte mich auf den Pfad der „korrekten“ Denktugenden zurückzuholen. Auch wenn die Ausprägung nationalistischer Trends für mich nicht auf Schritt und Tritt offenkundig war (und auch heute bei weitem nicht das ganze ukrainische Volk erfasst hat), so konnte ich bereits als DDR-Student die feinen Spannungen insbesondere zwischen den Russen (die dominierten), den Ukrainern und vor allem den früher zur K-und-K-Monarchie gehörenden Westukrainern (Galizien) spüren. (Dieser Eindruck erhärtete sich noch, als ich im Anschluss an mein Studium noch fast vier Jahre am DDR-Erdgasleitungsbau in der Westukraine mitarbeitete.) Und noch eines konnte ich deutlich wahrnehmen: Wir waren als Deutsche in Kiew sehr gern gesehen (anders als z. B. in der Russischen Föderation) und genossen (wie angenehm und praktisch!) als Studenten einen gewissen Freiheits-, Studien- und Prüfungsbonus … Und ich fühlte mich geachtet und integriert. Lernte viele Städte wie Tscherkassy, Lwow, Iwano-Frankowsk und Uman kennen und hatte zum dortigen Menschenschlag ein vertrautes Verhältnis. Dass nun fast genau 50 Jahre nach meinem Studienbeginn eine akute Kriegssituation zwischen der Russland und der Ukraine eingetreten ist, hat seine Wurzeln auch in der Geschichte des 19. Jahrhunderts, aber vor allem der des vorigen Jahrhunderts, in der die Russen (auch in der Westukraine!) an den Hebeln der Macht saßen.

Foto: Wolfgang Schiele – Absolventenabzeichen des Kiewer Polytechnischen Instituts

Um aber wieder auf das legendäre Datum zurückzukommen: Als ich gestern Abend rein zufällig (???) meine Studiennachweise zur Hand nahm stellt ich fest, dass der 22. Februar ein ganz besonderer Tag war und ist: Exakt vor 44 Jahren wurde mir (Achtung, jetzt wird´s sperrig) der Titel eines „Diplomingenieurs für die Automatisierung wärmeenergetischer Prozesse (mit dem Schwerpunkt Kraftwerke)“ zuerkannt. Was für einen Außenstehenden vielleicht kurios erscheint: das handgeschriebene Diplom ist in Ukrainisch (links) und Russisch abgefasst.

Foto: Wolfgang Schiele

Die Verhältnisse in der Ukraine haben sich insbesondere nach dem Zerfall der Sowjetunion (für Putin die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts) völlig verändert. In den achtziger Jahren war ich noch zwei Mal in Kiew und Odessa – doch danach habe ich die Entwicklungen nur noch über die diversen Nachrichtenkanäle verfolgt. Vieles konnte ich damals nicht wirklich nachvollziehen und einiges wird mir in der heutigen, viel genaueren Kenntnis der geschichtlichen Zusammenhängen weitaus klarer als denen, die keinen unmittelbaren Kontakt mit den Menschen dort hatten. Was mir immer in bester Erinnerung bleiben wird, ist die prächtige Stadt Kiew, die ich in über fünf Jahren fast wie meine Westentasche kennenlernen durfte. Und nicht vergessen: Der Keimzelle Russlands liegt übrigens in Kiew – die Kiewer Rus war das Zentrum der „Rurikiden-Dynastie“ (daher Rus und Russland), die Kiew im neunten Jahrhundert zu ihrem Großfürstensitz erkoren. Und von dort aus ihr Reich ausweiteten und verwalteten.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

© Wolfgang Schiele 2022 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de