
Der Trend zum frühen Ausstieg aus dem Berufsleben hält unvermindert an. Auch wenn viele der Ruhestandsanwärter mit Strafabgaben von über 10% ihrer Rente rechnen müssen, weil sie wegen fehlender Anrechnungsjahre nicht abschlagfrei davonkommen, gehen mehr Menschen als die Rentenversicherung jemals geplant hatte, zum rechtlich frühestmöglichen Termin in die Rente. Woran mag das wohl liegen …?
… Was sagen diese Menschen, wenn man sie zum Ruhestand befragt, welcher Unterton schwingt mit in den Antworten derer, die demnächst die berufliche Laufbahn verlassen können? Ich habe in mehr als einhundert Seminartagen zum Thema Ruhestandsvorbereitung nachgefragt, aber auch ungefragt Antworten von Mitarbeitern aus vorwiegend mittelständischen Unternehmen erhalten. Und mehrheitlich schienen den Teilnehmern Steine vom Herzen zu fallen bei dem Gedanken, endlich aus dem Unternehmen herauszukommen. Hier eine kleine Auswahl typischer Sätze, die ich hörte:
„Das wird immer schlimmer, ein Glück, dass ich ein Vorruhestandsangebot bekommen habe!“
„Keinen Tag länger als nötig werde ich an Bord bleiben!“
„Die spielen einen langsam kaputt – immer diese Neuerungen, die nichts bringen und auf unserem Rücken ausgetragen werden.“
„Ich nehme jedes Angebot für einen vorgezogenen Ruhestand dankend an, weil der Druck einfach zu groß wird.“
„Es wird Zeit, dass das alles endlich ein Ende hat.“
Einige sagten zwar nichts, aber man sah es ihrer körperlichen Haltung, ihrer Mimik und Gestik an, dass es sie erleichterte, demnächst in Rente gehen zu können.
Während meiner Ausbildung zum NLP-Master 2012 lernte ich die sog. „Motivationsprofile“ kennen. Sie basieren auf den „Language-and-Behaviour-Profilen“ (LAB-Profilen), die eine Auswahl von Sprach- und Verhaltensmustern beschreiben und ein sogenanntes Metaprogramm darstellen. Seit dieser Zeit versuche ich Menschen in diesen Profile wiederzuerkennen, um zu erkunden, wie man am besten mit ihnen kommuniziert. Das Spannende an den Motivationsprofilen (MP) ist, dass sie immer einen Dualismus aus zwei Polen bilden. Zum Beispiel ist das MP „Hinwendung“ durch die beiden Polmuster „menschlich“ und „dinglich“ bestimmt, das MP „Abstraktionsgrad“ durch die Gegensätze „global“ und „detailliert“ definiert. Es gibt so um die 30 unterschiedliche Motivationsprofile, wobei ich persönlich 6 bis 7 von ihnen bevorzuge. Das ist für Alltag, Beruf und Coaching völlig ausreichend.
Motivationsprofile kann man mit etwas Umgang und ein wenig Übung an der Sprache und am Verhalten gut erkennen. Bei Menschen, denen man gerade begegnet, ist es etwas schwieriger. Doch es gibt standardisierte Fragestellungen, die uns eine Zuordnung zu den MP enorm erleichtern. Bei unseren beiden Beispielen oben sind es die Fragen: „Achtest du eher auf Menschen (weil Dinge langweilig sind) oder auf Dinge (weil Menschen z. B. unberechenbar sind)?“ und „Willst du den großen Überblick erlangen oder willst du es ganz genau wissen?“

Für die Motive der Rentenanwärter bot sich das Profil „Motivationsrichtung“ an, das die Gegensätze „hin zu“ und „weg von“ kennt. In bestimmten Kontexten sind wir alle geneigt, entweder ein erstrebenswertes Ziel zu erreichen oder einer unangenehmen Situation auszuweichen. Hinter den beiden Polarisationen stehen zugleich aber auch Werte, die wir mit unserer Lebenswelt verbinden. Oftmals verknüpfen wir mit den Werten nur die positiven Qualitäten unseres Lebens: Freiheit, Harmonie, Anerkennung, Wohlstand … Das sind die sogenannten Appetenzwerte (die, auf die wir „Appetit haben“ …). Doch es gibt auch die, die man besser vermeiden möchte: die sog. Aversionswerte. Und diese scheinen mir den Hintergrund für die obenstehenden Aussagen zu bilden. Sie beschreiben Menschen, die von etwas weg wollen, vom Berufsleben nämlich oder raus aus dem Unternehmen.
Ein Teil der Menschen, die meine Workshops zum Thema Ruhestand besucht haben, möchten einfach weg vom Berufsleben. Sie kommen womöglich mit den einschränkenden Arbeitsbedingungen nicht klar, stehen in keinem guten Verhältnis zu ihrem Chef, fühlen sich mit den übertragenen Arbeitsaufgaben überfordert oder haben aus den unterschiedlichsten Gründen innerlich bereits gekündigt. Ihre berufliche (Aversions-)Wertewelt besteht aus Lustlosigkeit, Abneigung, stillem Protest oder sogar offenem Widerstand. Sie gehen ihrem Beruf leidenschaftslos nach – ihren Lohn empfinden sie als Schmerzensgeld. Daraus resultiert der dringliche Wunsch: „Bloß weg von hier, so schnell wie möglich!“ Die Crux daran ist in vielen Fällen, dass sie sich keine ernsthaften Gedanken über ihr hin zum Ruhestand gemacht haben. Nur von etwas weg zu wollen bedeutet noch lange nicht, mit der Ruhestandszukunft eine angemessene, sinnvolle, gelingende und glückliche Zeit vor sich zu haben. Also lautet mein Tipp: Wenn Sie es wirklich nicht mehr aushalten können, dann machen Sie sich neben Ihren Abschiedsbemühungen auch ernsthafte Gedanken über Ihre Aufgaben, Ziele und Rollen als Rentner oder Pensionär.
Glücklicherweise gibt es aber auch Menschen, die den Ruhestand als natürliche Folge eines Berufslebens sehen, in dem sie bereits auch außerhalb des Büros oder der Fabrik ihre „Work-Life-Balance“ ausgelebt haben. Sie fliehen nicht massiv von etwas weg. Sie müssen nicht auf Biegen und Brechen als Rentner zwanghaft etwas nachholen, weil sie sich bereits in der Lebensphase davor einen Ausgleich zur Arbeit geschaffen haben und mit den „Widrigkeiten“ des Berufslebens ganz gut klar gekommen sind. Ihr Motto lautet: „Alles gutgegangen, immer die Kurve gekriegt“ – und jetzt werden sie die liegengebliebenen Projekte angehen. Sie wissen meist sehr genau, welche Appetenzwerte sie hin zum Ruhestand noch bedienen möchten (z. B. Gelassenheit, Wellness, Freitätigkeit, Lust am Leben, Hilfe anderen Menschen gegenüber, Ehrenamt usw.). Und alles ohne einen Groll auf die vergangene, für andere vielleicht als sinnlos betrachtete Zeit im beruflichen Umfeld.

In meinen Augen gibt es zwei grundsätzliche Menschentypen beim Übergang von der zweiten in die dritte Lebensphase: Die einen, die unbedingt und mit aller Macht aus dem Job raus müssen oder wollen und die anderen, die gern und dankbar gehen dürfen und möchten. Zu welchem Menschenschlag gehör(t)en Sie an der Schwelle zum Ruhestand?
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!
Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2022 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de
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