
Wir entreißen im Moment des Auslösens der Kamera dem Jetzt und Hier einen winzigen visuellen Ausschnitt, den wir der digitalen Ewigkeit schenken. Zu aller erst einmal ist dieses fotografisch festgehaltene Fragment etwas Losgelöstes, das beim späteren Betrachten wieder in die zeitliche Reihe der Abläufe, auf die Zeitachse unseres individuellen Erlebens gebracht werden muss.

Die Bildschnipsel – auch wenn wir im Leben viele zehntausend davon anfertigen – bilden immer nur ein zeitliches Milliardstel unseres Daseins ab. Angenommen, wir machen in unserem Leben 100.000 Aufnahmen mit einer Durchschnitts-Belichtungszeit von 1/100 Sekunde, dann haben wir nicht einmal 20 Minuten des uns umgebenden Daseins visuell festgehalten.

Räumlich gesehen würden die Bilder auch nur einen klitzekleinen Ausschnitt der uns umgebenden Realität widergeben – und das in aller Regel ton-, wort-, geschmack- und geruchlos. Eine erschreckend unvollständige und beschränkte Wiedergabe unserer durchlebten Welt, die eine große Vielzahl an Wahrnehmungen und Empfindungen außen vorlässt.

Wäre da nicht unser Hirn. Es ergänzt die rein visuelle Wiedergabe einer vergangenen Wirklichkeit um die tatsächlich um uns herum abgelaufenen Geschehnisse, Gedanken, Emotionen und projiziert unbewusst auch die handelnden Personen mit hinein. Allein der fotografische Abdruck mag zwar eine gewisse Faszination ausmachen, spiegelt aber nur sehr stümperhaft das Eigenerlebte wider. Kopf und Bild müssen zusammenarbeiten, sich gegenseitig ergänzen, sonst fehlt uns der individuelle Zugang zum Geschehenen über die zweidimensionale bildliche Erscheinung und damit auch das Gesamtverständnis für den festgehaltenen Augenblick.

Ist die visuelle Archivierung unserer Lebenszeitmomente wirklich die beste und sinnvollste Art der Abspeicherung von Informationen? Gibt es nichts Vollkommeneres als eine platte, farblich differenzierte Aufzeichnung von Pixeln auf einer Projektionsfläche oder einem Stück Papier? Selbst wenn wir zum Bewegtbild überwechseln fehlen uns die körperlichen Empfindungen, die vielfältigen Klänge und banalen Gerüche der Umgebung.

Und trotzdem bleibt die Fotografie eine Faszination, auch oder gerade wegen ihrer Unvollkommenheit im sinnlichen Erfahrungsbereich. Vielleicht hat sie ja eine göttliche Aufgabe übernommen – das Auslösen, Triggern, Aktivieren oder Kreieren von Reflexionsprozessen, die unsere gesamte Gefühls- und Erlebenswelt umfassen und dazu führen, uns selbst besser zu erkennen.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!
Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2022 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de
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