Stellt Euch vor: Meine Geburtsurkunde ist nicht mehr auffindbar (das kommt davon, wenn man sein Leben aufräumt …). Womit ich konsterniert feststelle, dass es mich gar nicht gibt … Zumindest im bürokratisch-juristischem Sinne bin ich überhaupt nicht vorhanden, nie zur Welt gekommen. Es gibt mich administrativ nicht. Folgerichtig kann ich sie – weil ohne Papiere – gar nicht verlassen, diese Welt. Ich bin also auch gleichzeitig unsterblich. Leider nur im juristisch-bürokratischen Sinne.
Das sogenannte „Baumhoroskop“ nach keltischem Vorbild – der Erinnerungsgarten in meiner Geburtsstadt Aschersleben
Eine geliebte Freundin und Nachbarin wurde am Wochenende beigesetzt. Nun bin ich zwar ab und an auf Friedhöfen unterwegs; allerdings mag ich nicht die Trauerzeremonien, die der Grablege vorangehen. Erinnern sie doch daran, dass man selbst auch sterblich ist. – Doch hier ging es um die letzte Ehrbezeugung, die Verabschiedung auf den letzten Wegabschnitt, die Wertschätzung einer Person, die das eigene Leben nachbarschaftlich mitgeprägt hat. Da seit dem Todesfall bereits vier Wochen vergangen waren, fuhr ich bereits in einer gewissen Vortrauerstimmung zur kleinen Kapelle auf unseren Waldfriedhof, um am Ritual einer anonymen Urnenbeisetzung teilzuhaben.
Die Trauer als Emotion ist nach meinem Mentor Sebastian Mauritz die „Hüterin der Werteerinnerung“: Der Verlust erst macht uns vollständig bewusst, was wir eigentlich verloren haben. Im Alltag des Zusammenlebens war die Welt in Ordnung; Respekt und Achtung zwischen uns Nachbarn bildeten ein gewisses Grundrauschen an gegenseitiger Wertschätzung. Jetzt, wo die permanente Abwesenheit einer Person allgegenwärtig ist, stellen die mit ihrem Tod abhanden gekommenen Werte eine neue Qualität dar. Wir trauern weniger ihm, dem Menschen, sondern ihnen, den entschwundenen Werten, nach.
Namensschilder an den Säulen, die die Urnenbeisetzung personalisieren
Die Trauerfeier vollzog sich im kleinen Familienkreis; dazu waren einige enge Freunde und Bekannte eingeladen. Im Mittelpunkt stand die offizielle Trauerrede – eine Rückschau und Würdigung der Lebenszeit – die „Laudatio auf das Leben“ – sie will uns den Verstorbenen als guten, schönen und wahren Menschen hinterlassen. Recht so! Der Nachruf, eine Aufwertung der Verstorbenen, nutzt traditionell (und meist unbewusst) das Sprachmodell von Milton H. Erickson (kurz: „Milton-Modell“) mit seinen Generalisierungen, Verzerrungen und Tilgungen. Am ehesten fielen mir die Tilgungen auf: das Weglassen wichtiger Details und Zusammenhänge, das Verschweigen teilweise existenzieller Vorkommnisse. Vieles, was der Trauergemeinde bekannt war (und wohl auch wichtig erschien), wurde ausgeblendet. Bosheiten, Verletzungen und Schicksalsschläge wurden getilgt – obwohl sie zum Leben eines jeden von uns hinzugehören (… aber das möchte auf einer Trauerfeier – auch nicht im kleinsten Kreise – niemand hören. Vielleicht ist man ja selbst verstrickt in das Ereignis oder sogar dessen auslösende Ursache gewesen …). Dann folgten die Verzerrungen: Umschreibungen und vorsichtige Umwidmungen von Geschehnissen, die Entschärfung und Milderung von Lebenstatsachen. Und sogar der Versuch einer Versöhnung mit Vorkommnissen, die noch immer den überlebenden Familienclan belasten könnte … Generalisierungen kamen nur wenige vor, wohl deshalb, weil die Rede sehr persönlich gehalten war.
Beispiel für einen „Eiche-Menschen“
Soweit zu den gesprochenen Worte der Urnengrabrede. Beim sog. Totenschmaus verzichten die Anwesenden weitgehend auf die Kriterien des Milton-Modells. Die Gespräche am Tisch drehen sich um das wahre Leben im Schattenfeld der Laudatio. Dort geht es nicht mehr um die „Persona“ nach C. G. Jung, ihr Auftreten und ihre Haltung nach außen, um das äußere Erscheinungsbild. Sondern um die Wahrheit und Wahrhaftigkeit der Person, des Menschen und seines Umfeldes zu Lebzeiten. Dort wird die überschwere Truhe der familiären Fragezeichen und Heimlichtuereien ein Stück weit geöffnet. In kleinen Gruppen ergänzen und komplettieren die Trauernden (gewollt oder unbewusst) ihr vorhandenes Insiderwissen um neue Mosaiksteinchen – und das Bild der Verstorbenen wird vervollständigt. Mal in die eine, mal in die andere Richtung. Mal wohlwollend, mal taktlos. Manch familiäres Rätsel, Dunkel oder Mysterium wird hier postuliert oder entschlüsselt. Das Gute daran: Auch wenn einiges unerträglich, unverständlich oder absurd erscheint: der Mantel des Trauerns legt sich über das neu erlangte Wissen und die Erkenntnisse werden tröstlicher und versöhnlicher. So werden wir am Ende eines Menschenlebens die Trauerrunde mit „Aha“- und „Oha“-Erkenntnissen über den Verstorbenen und sein früheres Umfeld verlassen. Und ins Herz schließen …
Weil wir auch nur sterbliche Menschen sind.
PS: Wer mehr über das Baumhoroskop auf dem Ascherslebener Friedhof wissen und sehen möchte, der/die schaue bitte hier nach: https://wp.me/p7Pnay-Z6
Vielen Dank für Ihr/Euer Interesse und beste Grüße
Wolfgang Schiele
Freiwillig emeritierter (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für angehende Senioren
In meinen dreitägigen Workshops zum Übergang vom Beruf in den Ruhestand biete ich neben feststehenden Inhalten auch regelmäßig zwei Themen zur freien Auswahl an: „Altersgerechtes Lernen“ und „Existenzielle Grundsatzfragen“. Nach nunmehr weit über 20 Veranstaltungen hat sich statistisch gesehen ein klarer Favorit herauskristallisiert: die existenziellen Fragen nach Irvin Yalom, u. a. zum Tod. Warum ist das so?
Im Jahre 2009 hat der Verlag Reader´s Digest eine Untersuchung initiiert, die die Lebenserwartungswünsche der Deutschen erfassen sollte. Die Teilnehmer hatten die Wahl, sich zwischen folgenden Alternativen zu entscheiden: Würden Sie gern 70 Jahre, 90 Jahre, 110 Jahre, 150 Jahre oder 300 Jahre alt werden oder ewig leben?
Als ich im Februar diesen Jahres meine Vorsorgeunterlagen zusammengestellt habe, stand für mich auch die Frage nach der Art meiner Bestattung an. Ohne lange nachzudenken, kreuzte ich „Friedwald“ an, weil ich viele Jahre recht naturverbunden gelebt habe. Aber konkrete Vorstellungen hatte ich damals noch nicht …
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass mit zunehmendem Alter die Gedanken an unser Ableben immer weiter in den Mittelpunkt rücken werden. Nunmehr von der als unendlich lang empfundenen Alltagszeit befreit, wird uns immer bewusster, dass unsere „Restlaufzeit“ kürzer und endlicher wird. Der Abstand von Existenz sichernder Tätigkeit und die bedingungslose Freiheit unseres Denkens und Handelns lassen uns auch immer weiter vordringen in ungekannte mentale, transzendente und spirituelle Welten …
Auf dem Weg zu meinem Seminarurlaub in Hannover habe ich einen Zwischenhalt eingelegt, um die Grabstellen meiner Eltern zu besuchen. Seit fast zwei Jahren war ich nun nicht mehr hier und dafür sehr erstaunt, dass der für den Friedhof zuständige Bauhof eine würdige und wertschätzende Urnenanlage gestaltet hat. Im sogenannten Erinnerungsgarten befindet sich das Ascherslebener „Baumhoroskop“ …
Vorige Woche in einem Seminar im Oberfränkischen. Wir haben im Workshop „Aktiv in den Ruhestand“ gerade über die vielfältigen Kompetenzen von Menschen im Alter zwischen Beruf und Ruhestand debattiert. Die Diskussion ist konstruktiv und an vielen Stellen auch humorvoll. Dann treten wir in die Mittagspause ein. Und ich weiß bereits jetzt, dass die nächste Seminarstunde ein wenig schwierig werden könnte, weil wir das Thema „Erleben und Tod“ angehen werden. Doch da springt mir ein Teilnehmer mit niederländischer Abstammung, Anfang 60, neben dem ich am Mittagstisch sitze, unbewusst zur Hilfe.
Und fragt spontan und ganz wie nebenbei, an die Tischnachbarn gewandt: „Gibt es ein Leben vor dem Tod?“ – Betretenes Schweigen (was jedoch im Zusammenhang mit dem Mittagessen höflich und etikettenkonform erscheint). „Also, ich habe es noch nicht geschafft, mein Geld auszugeben. Da muss ich mich wohl sputen.“ (Jetzt reagieren einige Tischnachbarn mit etwas süßsaurer Miene, was gegebenenfalls am Essen liegen mag.) „Ja, so ist das – ich hatte noch keine Zeit, es zu verleben und das Leben zu genießen.“ (In den Gesichtern der Tischnachbarn scheint Mitleid aufzukommen …).
Ja, haben wir es wirklich gelebt, unser Leben? Haben wir unsere Biografie so gestaltet, wie wir sie uns als Kinder und Jugendliche vorgestellt hatten? Oder sind wir ihm untreu geworden, unserem persönlichen Lebenslauf? Haben uns immer wieder im Leben äußeren Zwängen und Einschränkungen untergeordnet, bis wir nicht mehr das Leben lebten, was wir uns vorgestellt hatten? Was, wenn wir bisher nur Banalitäten erlebt und wenig Sinnvolles und Erfüllendes mitgenommen haben? Uns nicht selbst verwirklichen konnten – egal, ob mit Geld oder ohne selbiges? Und genau in diesem Moment musste ich an ein Lied von Asaf Avidan denken, den „Reckonning Song“, in dem es in der deutschen Übersetzung heisst:
„Eines Tages, Baby, werden wir alt sein. Oh Baby, werden wir alt sein. Und an all die Geschichten denken, die wir uns hätten erzählen können …“
Und an Julia Engelmann, die auf genau diesen Songtext so genial „geslamt“ hat. Was in meiner Begriffswelt nichts anderes bedeutet, als dass sie den Text als Vorlage für eine freie sprachliche (Weiter)Interpretation genutzt hat. Ziemlich zielsicher für die Vertreter jener Generation, die die dritte Lebensphase gerade noch so vor sich hat. Aber selbstredend auch für die Jüngeren, die nur den Mut aufbringen und die Chancen ergreifen müssen, um in der späten Freiheit des Lebens nicht sagen zu müssen: da gibt es etwas, was wir bereuen müssen (https://www.youtube.com/watch?v=DoxqZWvt7g8).
Der Anstoß des Teilnehmers mit niederländischem Migrationshintergrund machte mich sehr nachdenklich, wurde aber dann doch zu einem motivierenden Aufhänger für den Fortgang des Workshops zum Thema „Aktiv in den Ruhestand“ und letztlich zu einem vollen Erfolg.