Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass mit zunehmendem Alter die Gedanken an unser Ableben immer weiter in den Mittelpunkt rücken werden. Nunmehr von der als unendlich lang empfundenen Alltagszeit befreit, wird uns immer bewusster, dass unsere „Restlaufzeit“ kürzer und endlicher wird. Der Abstand von Existenz sichernder Tätigkeit und die bedingungslose Freiheit unseres Denkens und Handelns lassen uns auch immer weiter vordringen in ungekannte mentale, transzendente und spirituelle Welten …

Irvin Yalom hat im umfangreichsten Kapitel seiner „Existenziellen Psychotherapie“ die lebenslange Spannung zwischen dem bewussten Erleben und dem unausweichlichen Sterben beschrieben. Wir Menschen sind offenbar die einzigen Geschöpfe auf dieser Welt, denen bewusst ist, dass sie sterben werden. Das scheint mir der wichtigste Grund dafür zu sein, dass die Menschheit Götter und ein Leben nach dem Tode – an welcher Stelle des Universums auch immer – ersann: Weil wir es uns nicht eingestehen wollen, dass es kein DANACH mehr gibt. Das, was wir am hartnäckigsten und streitbarsten leugnen, ist die Unausweichlichkeit des Todes, die Unabwendbarkeit des endgültigen Abschieds ohne ein Wenn und ein Aber.

In unserer Kindheits- und Jugendzeit blendeten wir unwillkürlich die Idee der Endlichkeit des Lebens aus. Und wenn wir uns tatsächlich mit Gedanken an den Tod beschäftigten, dann bauten unsere Eltern um uns herum entweder eine Mauer der Verleugnung auf oder sie griffen auf den gesellschaftlichen Mythos einer scheinbaren Unsterblichkeit zurück. Das alles lief darauf hinaus, den Gedanken an den Tod aus dem Leben zu verdrängen, weil eine frühpräsente Urangst uns vielleicht vor der Zeit schon töten könnte. Mit fortschreitender Lebenszeit nahmen die Alltagsthemen mit den Fragen an die berufliche Karriere, die familiäre Existenzsicherung und die Fürsorge für unsere Liebsten einen derart großen Platz ein, dass das natürliche Sterben weitgehend bewusst ausgeblendet war. Nun, an der Schwelle zur dritten Lebensphase, lenken sowohl der Freiraum als auch die Freizeit unsere Gedanken immer öfter auf die Frage der Unvermeidbarkeit des Todes. Und wie es wohl sein wird, wenn wir gehen, wie wir gehen und was danach dennoch sein könnte …

Einer meiner Seminarbausteine zu den existenziellen Themen trägt den Untertitel: „Was den Abschied so schwer macht“. Und das nicht umsonst. Denn schon Alfred Längle, ein enger Mitstreiter von Viktor E. Frankl, dem Begründer der Existenzanalyse und Logotherapie, sagte:
„Es ist nicht das Schlimmste, sterben zu müssen. Viel schlimmer ist es, nicht gelebt zu haben. Der Tod ist kein lebensfeindliches Prinzip, er gehört zum Leben wie alles Wachsen. Von Anfang an leben wir endlich – dann können wir beginnen, endlich zu leben.“ Die Idee der Endlichkeit erst lässt das Leben wertvoll werden, da es mit dem Tod begrenzt ist. Unendlich langes Leben wäre sinnlos. Und manch einer denkt dabei vielleicht an den Film „Und ewig grüßt das Murmeltier“ und über den in eine Zeitschleife geratenen Journalisten, dem das Dasein in einer sich ständig wiederholenden Welt ziel- und sinnlos vorkommt.

Schieben Sie die Fragen des Erlebens und Sterbens nicht bis auf den letzten Tag auf. Reflektieren Sie Erreichtes, aber planen Sie auch noch Erstrebenswertes. Und gehen Sie es ernsthaft an! Was würden Sie tun, wenn man Ihnen glaubhaft mitteilen würde, Sie hätten noch ein Jahr, einen Monat, einen Tag zu leben? Bei den meisten Menschen geht beim letzten Teil der Frage ein wahres Kopfgewitter los … als ob sie gerade eben den wahren Wert ihres Lebens erkannt hätten … Wenn dem Menschen endgültig bewusst wird, dass er vom Leben Abschied nehmen muss, dann fehlt meist die Zeit für Selbstreflektion.

Vielleicht können wir ja der Endlichkeit ein paar Zeiteinheiten abgewinnen und die eigene Vergänglichkeit ein wenig hinauszögern. Vielleicht können wir ja die stetig wachsende Lebenserwartungszeit für mehr Ichbezogenheit nutzen und ein wenig Selbstverwirklichung üben. Oder um etwas zu hinterlassen, eine Spur für die Nachwelt. Sie muss ja nicht gleich den Fußabdrücken Armstrongs auf dem Mond gleichen. Oder aber einfach nur aktiv werden, um Unterlassenes in letzter Lebenssekunde nicht bedauern zu müssen.

Begleichen Sie mögliche „offene Rechnungen“, wie: „Habe ich andere um Verzeihung gebeten – und hat man mir verziehen? Gibt es noch etwas zu bereuen? Wem sollte ich eine eindeutige Botschaft hinterlassen? Wem noch vergeben? Wem sollte ich noch sagen, dass ich sie/ihn immer geliebt habe? Mit wem sollte ich mich wieder versöhnen?“ und vielleicht auch: „Wessen schäme ich mich? Und was bleibt ewig ungesühnt?“

Die biologische Grenze zwischen Leben und Tod ist recht konkret festgezurrt; phsysiologisch gehen die Zustände eher kontinuierlich ineinander über. Der Tod ist eine Tatsache des Lebens; wenn wir einen Moment lang nachdenken, werden wir uns bewusst, dass der Tod nicht nur der letzte Moment im Leben ist. „Sogar in der Geburt sterben wir, das Ende ist von Anfang an da!“, sagt Manilius und Montaigne folgert: „Warum fürchtest du den letzten Tag? Er trägt nicht mehr zu deinem Tod bei als irgendein anderer …“

Weitere Beiträge zu den „letzten Dingen und Sorgen“, die Irvin Yalom in seinem Lebenswerk „Existenzielle Psychotherapie“ beschreibt, finden Sie unter:
https://wp.me/p7Pnay-1yh – „Isolation und Verbundenheit“,
https://wp.me/p7Pnay-1sG – „Freiheit und Verantwortung“ und
https://wp.me/p7Pnay-1xG – „Sinnsuche und Sinnlosigkeit“.

Vielen Dank für Ihr/Euer Interesse und beste Grüße

Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren

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