Wenn ich in einem Seminarraum vor die Teilnehmer trete, dann nehme ich in mir verschiedenartige Körperreaktionen wahr. Mein Körper sendet unwillkürlich und ungeachtet seiner Stellung im Raum immer wieder klar interpretierbare Gefühlssignale aus …
… Meist sind sie unterschwellig, weil mein willkürender Anteil die aktuelle Situation bewusst erfassen will. Gleichzeitig empfange ich von den Teilnehmern emotionale Reaktionen: angenehme und weniger erquickliche. Lange Zeit war ich mir dieses Phänomens des Senden und Empfanges von unterschwelligen Botschaften überhaupt nicht bewusst. Und als ich darauf stieß, konnte ich seine Ursachen nicht benennen. Bis ich während meiner Coachingausbildung in einem Sommercamp eine Übung absolvierte, die mir meine ganz individuellen Wahrnehmungen im Raum sehr intensiv bewusst machte.
Die Aufgabe bestand darin, den eigenen Wahrnehmungsraum um sich herum kennen und bewerten zu lernen. Dazu stellte ich mich in die Mitte eines imaginären Kreises und bat eine Vertrauensperson, sich soweit anzunähern, bis meine individuelle „Stressgrenze“ erreicht war = „Bis hierher und nicht weiter!“ Dann bat ich die Person, diesen Abstand im Weiteren beizubehalten. Als sie genau vor mir stand, sollte sie einen wertschätzenden Satz, wie etwa „Du bist ein ganz Netter“ oder „Ich möchte dich gern kennenlernen“ oder „Wie schön, dass es dich gibt“ oder auch „Du bist ein attraktiver Mensch“ sagen. Dabei hielt ich die Augen geschlossen. Ich fühlte in mich hinein und registrierte, welche gefühlsmäßigen Auswirkungen die jeweilige Ansprache auf mich hatte. Die Person schritt nun im Uhrzeigersinn in jeweils 45°-Schritten um mich herum und sprach den einen oder anderen achtsamen und wertschätzenden Satz in den folgenden Positionen immer wieder aus. In jeder der Positionen notierte ich meine persönliche, gefühlsmäßige Reaktion: mal war sie angenehm, mal weniger zuträglich. Im Ergebnis erhielt ich ein dreidimensionales Bild meiner „Stress“-Belastung gegenüber der anderen Person im Raum (mein Stresslevel ist im Beispiel vorn links praktisch gleich null und mein Seelenzustand sehr gefestigt; im Gegensatz dazu ist meine Position rechts hinten außerordentlich bedenklich und meine Verletzbarkeit sehr hoch).
Nach dieser Übung wusste ich nun, in welchen Raumrichtungen ich trotz „negativer“ Teilnehmerreaktionen stark war und wo ich eher verletzt werden könnte. Das Beispiel zeigt, dass ich sog. „schwarzen Opponenten“ wegen meiner linksseitigen (Resilienz-)Stärken besser an der linken als an der rechten Flanke begegnen sollte. Oder anders ausgedrückt: Personen, die sich mir von hinten rechts nähern oder ansprechen, gewinnen eher Macht über mir und könnten mich sehr schnell negativ beeinflussen. Das kann in angespannten Seminarsituationen und bei wichtigen Meetings fatale Folgen haben …
Nun kann man in einem Seminarsetting nicht einfach die Teilnehmer umplatzieren, um die potenziellen „Störer“ auf „seine Plus-Seite“ (wir sagten früher dazu „grüne Seite“) zu ziehen. Sitzen „über“kritische Teilnehmer vorrangig links von mir, dann verfüge ich über ausreichend eigene positive Energie und Kraft, um mit ihnen bestimmt und durchsetzungsbereit, aber dennoch wertschätzend und achtsam umzugehen. Haben sie sich dagegen vornehmlich rechts von mir platziert, dann muss ich die Situation für mich reframen („einen neuen Rahmen finden“). Das heißt, ich korrigiere oder „überschreibe“ meinen persönlichen Wahrnehmungen und passe meine Reaktionen an den Kontext an. Anders gesagt (und um einen passenden Begriff aus dem NLP zu benutzen): ich modeliere meine „Submodalitäten“, wie z. B. die eigene Körperspannung, den Klang meiner Stimme, meine Sprachgeschwindigkeit, die Gestik meiner Hände oder die Länge des Blickkontaktes entsprechend. Oder ich setze gezielt Raum- und/oder Körperanker ein, um verbale Aussagen besser zu unterstreichen. Und natürlich kann ich mir im Raum auch immer wieder die neuen Positionen aussuchen, die mir einen energiereichen Input geben und damit neue Kraft für den Umgang mit der „roten Seite“ verschaffen (indem ich beispielsweise auf die linke Seite gehe, den grünen Raum stärke und gleichzeitig den roten Wahrnehmungsraum für mich weitgehend ausblende).
Das alles hilft mir in der Praxis sehr gut, neutral und „lagerfrei“ mit der gesamten Gruppe umzugehen, gleichzeitig möglichen verdeckten oder offenen Angriffen unmerklich, einfühlsam und angemessen auszuweichen und sie zu schützen.
Ihr (Vor-)Ruhestandscoach Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2018 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de
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