Foto: Wolfgang Schiele

Anfang des Jahres befand ich mich in einer selbstgewählten Weiterbildung zum „Introvision-Coaching“. Was das ist, I n t r o v i s i o n ? Und kann man damit jemanden coachen, ja gar therapieren?

In kurzen Worten hier mein ganz persönliches Verständnismodell zur Introvision:
Forscher an der Uni Hamburg befassten sich in den achtziger und neunziger Jahren zunehmend mit der Stressbelastung von Pädagogen, allen voran Frau Prof. Angelika Wagner. Sie entwickelte eine wissenschaftlich fundierte Methode für die mentale Selbstregulation stressbelasteter Menschen. Stress ist unbestritten eine verbreitete Quelle schwerer psychischer Störungen. Die Introvisonstheorie geht davon aus, dass wir gerade in Belastungssituationen positive Gedanken verdrängen und uns in Grübelschleifen verlieren. Wir stecken fest in gedanklichen Blockaden und sog. „Imperativen“, also althergebrachten Glaubenssätzen, behindernden Überzeugungen und erlernten Hilflosigkeiten, die unser Denken und Verhalten bestimmen. Ausgelöst werden sie durch situationsbedingte Alarme, die unseren Mandelkern, die Amygdala, im Gehirn aktivieren. Was uns wiederum in Stress versetzt, uns blockiert und teilweise handlungsunfähig macht.

Die Introvision geht von zwei Grundeinstellungen oder Kernhaltungen aus, die uns in einen stock-state versetzen können:

a) „… etwas wird (zwingend) passieren, was keinesfalls passieren darf …“ und/oder
b) „… etwas trifft (sicher) nicht ein, was unbedingt eintreffen soll/muss …“

Während einer Coaching- oder Therapiesitzung sollen nun die bestehenden Widersprüche, Konflikte und Blockaden abgebaut und aufgelöst werden. Vermeintliche Wahrheiten, mutmaßliche Gesetzmäßigkeiten und empfundene Gewissheiten werden in den Sitzungen transformiert in eine „Akzeptanz des Möglichen“. Nach der Erkundung der Imperative durch den Coach oder Therapeuten spürt der Klient in seinen Körper hinein. Dabei nimmt er eine Haltung weitgestellter Aufmerksamkeit oder eine Position (er)weiter(ter) Wahrnehmung ein. Sein gewohnter, fixierender Blick auf die Details der Welt soll sich weiten, freier und umfänglicher werden. Er übt eine Art unscharfer Betrachtungsweise ein und wird befähigt, sein Beobachtungsfeld auf peripehre Objekte und Phänomene auszudehnen. Neben einer intensiven Körperwahrnehmung werden auch die aktuellen Emotionen in die Übung einbezogen. Zum Schluss dürfen auch all die gegenwärtigen Gedanken, Bilder und Stimmen auftauchen. Der Coachee wird aufgefordert, sie nicht zu verdrängen und vor allem nicht zu bewerten, sondern wertfrei zu belassen und nicht zu analysieren. Damit soll erreicht werden, dass der Coachee nicht gegen seine Befürchtungen ankämpft, sondern diese ins Leere laufen lässt … (oder anders gesagt: sein emotional bewertendes Gefahrzentrum, den sog. Mandelkern oder die Amygdala, ausschaltet).

Die zentrale Intervention im Coaching nutzt einen mehrdeutigen Satzbeginn:

„Es kann sein, dass …“

Das Hilfsverb (oder auch Modaloperator) kann suggeriert sowohl
die Möglichkeit,
die Fähigkeit, aber auch
die Zulässigkeit
eines bestimmten Geschehens, also wie oben bereits erwähnt, das Einvernehmen, die „Akzeptanz des Möglichen“, mit dem konfliktbeladenen, erwarteten Eintritts- oder Geschehensverlauf.

Bezogen auf ein Thema des Ruhestandes hier ein Beispiel: Demenz. Ein 62-jähriger ist fest davon überzeugt, dass er an Demenz erkrankt ist. Er glaubt auch, das beweisen zu können, denn immer öfter vergisst er, wo er seinen Schlüssel hingelegt hat und einmal hat er es versäumt, den Herd abzustellen (der sich aber selbsttätig ausschaltete, weil er über einen automatischen Überhitzungsschutz verfügte). Auch die Demenztests bei seinem Hausarzt, die er durchlaufen hat, und die Tatsache, dass nur etwa 3 – 4% aller Menschen in seinem Alter an Demenz erkranken, können ihn nicht davon abbringen, sich als dement zu betrachten. Damit nimmt er sich jedoch einen Teil seiner Lebensfreude und blockiert sich in vielen seiner alltäglichen Handlungen. Unter anderen besteht die Gefahr zwanghaften Handelns oder einer Zwangsstörung.

Wichtig ist, den korrekten individuellen Imperativ, den ausschlaggebenden Konflikt, zu finden und in einen für den Coachee zutreffenden, passenden Satzzusammenhang zu bringen. Dann beginnt die Intervention im Sitzen. Ohne vorherige Entspannungsaufforderung, ohne die Kopplung an einen Ort der Sicherheit, ohne jedwede Atemtechniken. Das macht die eigentliche Intervention einfach und schnörkellos … und vielleicht deshalb auch so genial. Und ist damit so erstaunlich anders, als das Coach und Coachee von vielen anderen Interventionen kennen. Der Klient soll lediglich auf einer Skale von 1 bis 10 seinen Ausgangsbefindlichkeit benennen. Und dann folgt die formelhafte Verbalisierung für den Coachee im achtsamen Sitzen. Ohne in eine meditative Stimmung zu fallen oder etwa einen Trancezustand herstellen zu wollen. Dabei erfolgt die Löschung des angst- oder stressauslösenden Alarms. Der Klient macht die Erfahrung, dass der Alarm nichts wirklich „Schlimmes“ bewirkt. Allein im wertfreien Beobachten, Nichtbeurteilen des Problems, im Vorbeiziehenlassen von Gedanken, Gefühlen, Bildern und Vorstellungen verbessert sich regelmäßig der Zustand des Klienten in Bezug auf sein Problem, das beängstigende Ereignis, seine Blockade. Am Abschluss der Sitzung wird deshalb der Skalentest erneut gemacht. Ziel sollte es sein, bei 0 bis 1 zu landen. Ist dies nicht der Fall, wird eine weitere Sitzung anberaumt.

Ach ja: Ganz aktuell habe ich kürzlich von meinem Lehrmeister, Ulrich Dehner, die Info erhalten, dass die von ihm langangestrebte Gründung eines Verbandes zur Qualitätssicherung des IntrovisionCoachings nunmehr vollzogen sei. Die Introvision Association findet man seit wenigen Tagen unter www.introvision-association.com im Netz.

Vielen Dank für Ihr/Euer Interesse und beste Grüße
Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für angehende Senioren

© Wolfgang Schiele 2019 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de