
Unsere westliche Gesellschaft kultiviert und pflegt kontinuierlich und mit matrahafter Gleichförmigkeit den Gedanken der steten und beinahe beliebigen Lebensverlängerung. Fast schien es so, als ob wir von der sehnlichst erhofften Unsterblichkeit nur noch ein paar Schritte entfernt seien. Doch aus heiterem Himmel platzt in unsere selbstherrlich überzogenen Unsterblichkeitüberlegungen eine Störgröße hinein. In der Überzeugung, dass wir uns in einer perfekten und wie am Schnürchen wachsenden Welt der unbegrenzten Möglichkeiten bewegen, haben wir bewusst und sehr erfolgreich unliebsame Szenarien verdrängt; so u. a. jederzeit mögliche, mikro- oder makrokosmische Ereignisse mit verheerenden Auswirkungen auf das Leben auf dieser Erde, in dieser Welt …
Künstliche „blaue Zonen“
Orte der Langlebigkeit gibt es einige auf der Welt. Sie werden gemeinhin als „blaue Zonen“ bezeichnet – begrenzte Regionen auf dieser Erde, in denen es sowohl überdurchschnittlich viele Frauen wie auch Männer (!) gibt, die teils weit über 100 Jahre alt werden (siehe auch mein Beitrag „Eine blaue Zone der Hundertjährigen: Sardinien“ unter https://wp.me/p7Pnay-PC). Nach den Prophezeiungen des Bestsellerautors Dan Buettner wird der Globus in etwa fünf Jahren voll sein von diesen Zonen. Da die Anzahl der natürlichen „blauen Zonen“ begrenzt ist, haben schlaue Köpfe bereits ein erstes künstliches Ressort errichtet: ein mittelaterliches Dorf mit mediterranem Flair und allen Annehmlichkeiten, das „Borgo Egnazia“, die erste zertifizierte künstliche blaue Zone. Und es steht zu erwarten, dass die Wellnessbranche diese Idee dutzendfach kopieren wird …
Was ein langes und erfülltes Leben wirklich ausmacht
Immerhin: Bei den Untersuchungen nach den Ursachen der Langlebigkeit in den natürlichen blauen Zonen der Welt hat man u. a. festgestellt, dass die Alten „einfach vergessen, zu sterben“. Unstrittig erscheint mir, dass die lebenslange und intensive Integration in den jeweiligen Familienclan eine herausragende Rolle spielt. Die Gemeinschaft der Ultraalten wird durch starke Glaubensbekenntnisse zusammengehalten, Senioren aller Altersgruppen erhalten alter(n)serechte Arbeitsaufträge und gehen einem klar strukturierten Tagesablauf nach. Ein konsequentes Mittagsschläfchen, der regionale Rotwein und die Andacht für die Verstorbenen liefern weitere Lebensjahre. Menschen, die einen Sinn im eigenen Hiersein erkennen, eine positive Lebenshaltung zelebrieren und spirituelle Praktiken verfolgen, erleben zusätzliche Lebenszeit auch ohne medikamentöse Unterstützung oder Frischzellenkuren. Auch bleibt in diesen geschützten Regionen die digitale Welt weitgehend außen vor – die unmittelbaren sozialen Kontakte und die intakten Strukturen kleiner Gemeinschaften sind ein Garant für ein Leben jenseits der 100. Oder anders gesagt: Langes, glückliches und sinnvolles Leben bedeutet die Rückgewinnung der Wahrnehmung mit und in der Natur. Der Mensch als ihr integraler Bestandteil hat auch ohne die künstlichen Segnungen des Silicon Valley eine hohe Lebenserwartung.

Die Superreichen mit der größten Angst vorm Sterben
Um dem Tod zu trotzen, entwickeln Startups und die Wellnessindustrie permanent neue Medikamente, erstellen obskure Ernährungsrichtlinien und kreieren völlig neue (Er-)Lebenswelten, wie z. B. den Bodyism, Floaten in der Schwerelosigkeit oder den Aufenthalt in Kältekammern. Die sog. „Age Warriors“ (Gesundheitskämpfer) betrachten das Sterben als eine Krankheit, die es auszurotten gilt. Zu ihnen gehören so bekannte und schwerreiche Figuren wie Jeff Bezos, Mark Zuckerberg oder Elon Musk. Auch Oracle-Mitbegründer Larry Ellison (75) investiert an die 40 Millionen Dollar Jahr für Jahr in die Unsterblichkeitsforschung. Eine Milliarde gaben Larry Page und Sergey Brin (Google-Gründer) dem Forschungsunternehmen Calico, um Altersprozesse zu studieren und aufzuhalten. Würde eine dort gelungene Genmutation an Regenwürmern auch beim Menschen erfolgreich verlaufen, so wäre das nach unseren Maßstäben ein Zugewinn von 400 bis 500 Lebensjahren. Am vielversprechendsten soll aber die Strategie des russischen Milliardärs Dmitry Itskov funktionieren, nach der künstliche Intelligenz und der Umbau des Gehirns von analog auf digital den unsterblichen, unauslöschlichen „Neo-Human“ begründet. Und auch auf einschlägigen Zukunftskongressen wird dem Überleben biologischer Zivilisationen wenig Wahrscheinlichkeit zugesprochen: Nur durch eine konsequente Maschinisierung wäre die Zukunft unserer Spezies zu gewährleisten. (Wenn das der Trend im Universum ist, dann erklärt sich auch, dass wir bisher auf keine vergleichbaren Zivilisationen gestoßen sind – sie existieren zum einen für eine viel zu kurze Zeit und werden zum anderen – als biologische Gemeinschaft – früher oder später von mikro- oder makrokosmischen Katastrophen heimgesucht).

Das Geschäftsmodell boomt
Älterwerden, Langlebigkeit und menschliche Dauerhaftigkeit stellen zweifellos ein riesiges Geschäft dar. Man rechnet mit etwa 50 Milliarden Umsatz pro Jahr; Tendenz steigend. Bereits jetzt ist es ein Privileg der Reichen, immer länger gesund alt zu werden. Und wer nach noch aussichtsreicheren Perspektiven sucht, kann sich in die illustre Schar der bereits in flüssigem Stickstoff aufbewahrten 350 Teilnehmer einreihen, die geweckt werden wollen, wenn das Elixier für ewiges Leben gefunden ist. Vorausgesetzt, man verfügt über das nötige Kleingeld, denn die Warteschlange umfasst bereits mehrere Tausend Anwärter aufs Einfrieren, egal, ob nur mit dem Kopf oder mit dem kompletten Leib.
Umdenken in den Think Tanks
Vielleicht befasst sich das Silicon Valley aus aktuellem Anlass besser mit Fragen der Epidemologie und Virologie, mit den dringenden Existenzfragen der Menschheit als Bestandteil der belebten Natur. Anstatt mit der Weiterentwicklung von Maschinen und Algorithmen, die nur dazu geeignet sind, unsere Apparateabhängigkeit zu forcieren und unsere digitale Untwerfungsbereitschaft zu verstärken.
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße
Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für Senioren
© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de
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