Die Christen haben die Adventszeit einst vor das Weihnachtsfest geschoben, um sich auf eine Hohe Feier vorzubereiten und einen Spannungsbogen bis zur Ankunft des Heilandes aufzubauen. Es sollte eine Zeit des Wünschens immaterieller Werte sein (z. B. Frieden) und des Begehrens nach materiellen Dingen werden. Die bis zu vier Wochen andauernde Zeit war recht lang bemessen (weshalb man wohl auf dem Wege dorthin als kleinen Frustrationskiller für die Kinder den Nikolaustag einführte …). Doch sie sollte den Menschen grundsätzlich auch zu mehr Geduld, innerer Einkehr und persönlicher Selbstfindung anhalten.

Veruntreute Vorfreude
Diese BeSINNungspause wurde genutzt, um christliche Rituale zu feiern und liturgischen Vorgaben zu folgen, aber auch um Geschenke für das Weihnachtsfest selbst anzufertigen. Später dann kam der Kommerz hinzu, der den Menschen die Eigenfertigung von Gaben und Zuwendungen weitgehend abnahm und den Prozess der seelischen Verinnerlichung abrupt abkürzte. Heute erstehen wir Weihnachtsgeschenke in Kaufhäusern und Boutiquen oder bestellen bei den einschlägigen Händlern per Knopfdruck. Vom Moment der Auswahl der Bestellung an bleibt regelmäßig nur eine kurze Zeitspanne, und zack: da ist es! Und das geht uns nicht nur zu Weihnachten so. Der Vorgang ist (fast) immer und überall auf der Welt reproduzierbar mit dem Ergebnis einer mehr oder weniger umgehenden Wunscherfüllung. Für den Aufbau einer freudigen Erwartungshaltung, für das Träumen und stille Begehren, für die Entwicklung von Fantasien und mentalen Faszinationen, für eine innere Begeisterung, ja für die gelebte Vorfreude eben, bleibt kein Platz. Leidenschaften für die begehrten Wunscherfüller können sich so nicht entwickeln. Nachhaltige Glücksgefühle kommen weder vorher noch nachher wirklich auf. Eine baldige Frustration, verbunden mit dem Wunsch nach Mehr, Besserem und Anderem, macht sich immer öfter breit.


Schnelle Wunscherfüllung schafft Leere
Ich glaube, in diesem schnellen Ablaufmechanismus liegt auch eine Ursache für Depressionen. Bereits kurz nach dem Verlangen, dem Streben nach einem Wunschobjekt (egal, ob von außen gesteuert oder von innen kommend) erfolgt die Erfüllung, die Erledigung, die Satisfaction. In vielen Märchen unserer Kinderzeit, die mit Zauberstäben und anderen magischen Vehikeln arbeiten, ist bereits das Drama der schnellen Ernüchterung, Frustration und Unzufriedenheit vorgezeichnet. Kaum ist der Wunsch erfüllt, steigt die Gier nach Mehr rasch an und wir ahnen bereits das böse Ende nahen. Mit Premiumversand geliefert, verliert das Objekt unserer Begierde in rasanter Geschwindigkeit seinen Wert, der Grad unserer Zufriedenheit sinkt dramatisch ab gegen Null und die Sehnsucht nach einem neuen Wunschobjekt nimmt bereits den Platz des gerade Erhaltenen ein. Was fehlt, ist eine angemessene Zeit des Aushaltens, eine Spanne der vorgezogenen Dankbarkeit, des bangenden Hoffens und der zunehmenden Erwartung. Das Fehlen all dieser Aspekte hinterlässt oftmals eine große Wunscherfüllungsleere und macht uns im schlimmsten Fall krank.
Wie sagte schon Marylin Monroe:
„Alles, was zu besitzen sich lohnt, lohnt auch, dass man darauf wartet.“


Wahre Sehnsüchte hinter der Wunschfassade
Und noch etwas: Vielleicht entsprechen unsere schnell befriedigten Wünsche ja nicht unserem wirklichen und wahren Verlangen. Wir hinterfragen viel zu selten, welche tatsächlichen, unterschwelligen und unerkannten Sehnsüchte unser Wunschdenken antreiben – und wie wir sie womöglich besser hätten befriedigen können. Welches aufrichtige Verlangen verbirgt sich hinter unserer Wunschfassade, welche unverschlüsselten Begehren würden unsere Bedürfnisse besser befrieden, welches Streben könnte authentischer und wahrhaftiger sein, damit die Wunscherfüllung ihre destruktive Qualität verliert, in uns ein anhaltendes Glücksgefühl entfacht und zu innerer Gelassenheit führt?



Vom Wert immaterieller Wünsche
Vielleicht war dieses Weihnachten wegen der gegebenen Umstände auch in Hinsicht auf unsere Wünsche, Sehnsüchte und Begehren ein völlig anderes Fest. Womöglich hatten wir weder Zeit noch Gelegenheit, Dinge der materiellen Welt zu erstehen oder sie uns zu wünschen … und merken plötzlich, dass unsere Wünsche im Geiste, unsere gedanklichen Bedürfnisse und mentalen Sehnsüchte auf dieser Welt viel wichtiger sein können und damit auch weniger frustrierend, wenn eben gerade diese in Erfüllung gehen. Ich denke, sie haben über einen längeren Zeitraum die größere Überlebenschance und können eine gute Alternative zu den Begehrlichkeiten der materiellen Welt sein.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße

Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienztrainer für Senioren

© Wolfgang Schiele 2020 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de