
Die Pandemiezeiten üben einen großen Einfluss auf die Anzahl der psychisch Erkrankten aus. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen ist die Zahl der seelischen Störungen sprunghaft angestiegen. Therapieplätze gibt es so gut wie gar nicht, Einweisungen in die Landeskliniken erhalten dem Vernehmen nach nur noch Schwerstdepressive und Suizidgefährdete. Die virale Krise – sollte sie jemals wirklich zu Ende sein – zieht eine Krise der Angstkrankheiten, Verhaltensstörungen und Depressionen nach sich. Nicht nur bei Jugendlichen.
Viele Therapeuten und Coaches stehen bereit, Menschen in persönlichen Krisen psychologisch zu unterstützen und prozesshaft zu helfen. So hat einer meiner Lehrer, Dr. Michael Bohne (Stichwort: PEP oder Prozess- und Embodimentfokussierte Psychologie), im ersten Viertel der Pandemie, als uns Shutdown und Lockdown als außerordentliche, freiheitseinschränkende und angstmachende Phänomene erstmals knallhart trafen, Kartensets mit kraftspendenden und selbstwertsteigernden positiven Zuredungen (auch Affirmationen genannt) für besonders gefährdete Personen- und Berufsgruppen entwickelt und kostenlos zur Verfügung gestellt (heute noch zu finden u. a. unter http://www.innen-leben.org für soziale, pädagogische, medizinische Berufe, Organisationen und SchülerInnen).
Auch sah es in dieser Phase so aus, als würde die Solidarität und gegenseitige Hilfsbereitschaft zwischen den Menschen viele Dinge leichter erträglich machen. Mittlerweile schlägt der gesellschaftliche Zusammenhalt um in eine Spaltung der Menschen (manchmal werden sogar Familien zerrissen in der unheiligen Diskussion um die erforderliche Impfsolidarität) und in Positionskämpfe zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen. Hinzu kommt das kollektive Politikversagen und eine Föderalpolitik, die dem Virus alle Freiheit zur weiteren Verbreitung beschert, wo doch eine einheitliche Kommunikation und konzertiertes Handeln auf der Tagesordnung stehen sollten.
Nun überrollt uns bereits die vierte Coronawelle, und ein Ende der Pandemie ist nicht in Sicht. Nicht nur neurotisch sensible Menschen, sondern mittlerweile auch nervlich robuste Mitglieder aller Bevölkerungsgruppen – und selbst Therapeuten, Psychiater und Coaches – werden von den Wellen der Verunsicherung erfasst und spüren ihre eigene Hilflosigkeit, wenn nicht gar die Angst, selbst von den Wogen der Ungewissheit und der Zweifel hinweggespült zu werden. Woher sollen sie die psychische Unterstützung holen, die sie selbst brauchen, um jetzt oder später andere Betroffene wieder in eine robuste und lebenswerte Alltagswelt zurückzuführen? Wie steht es mit ihrer Resilienz, der seelischen Widerstandskraft gegen Probleme, Stress und Krisen? Auch wenn es nach außen so scheint, dass die Therapeuten, Coaches, Trainer und Berater die ersten mentalen Angstwellen der Klienten und Patienten brechen konnten: Der allgemeine Zustand ihrer Psyche ist dennoch beschädigt; ein Coach bräuchte vielleicht jetzt einen anderen Coach als Resonanzfläche für die eigene Problembewältigung, ein Therapeut eine Supervision mit Kollegen seiner Fachsparte. Nicht viel anders geht es vielen Medizinern, die zudem oft noch wegen ihrer Impfempfehlungen aggressiv angefeindet werden. Wenn schon kein menschlicher Konterpart zur Verfügung steht: Wo sind zumindest geeignete DIY-Methoden, um aus eigener Kraft aus den Grübelschleifen und Angstvorstellungen herauszufinden, um sich in der aktuellen Situation vor einer psychischen Störung oder/und möglichen seelischen Nebenwirkungen der Pandemie zu schützen?
Vor einigen Tagen erreichte mich eine Whatsapp, in der eine langjährige Freundin aus meiner früheren Ausbildung über ihre nun bereits länger andauernde psychische Behandlung zu Burn-out-Syndrom und Erschöpfungsdepression berichtete. Ich empfand sie immer als Ruhepol und kämpferische Natur, die vordem sehr achtsam mit Körper, Geist und Seele umzugehen wusste. Und sich nun nach mehrwöchiger stationärer Therapie und nachfolgender Anschlussbehandlung seit vielen Monaten in tagesklinischer Betreuung befindet. Das zeigt mir, dass auch seelisch bisher robuste Menschen durch externe Einwirkungen bzw. überzogene Erwartungshaltungen und Leistungsanforderungen psychisch erkranken können. Und ich selbst spüre immer wieder eine Art innerer Unruhe, die mir den ein oder anderen Nachtschlaf verdirbt. Neben Affirmationen, die ich für mich entwickelt habe, habe ich nun auch mein „Inneres Team“ aufgerufen, um in Pandemiezeiten gegen seelische Verletzungen besser gefeit zu sein.

In Ermangelung einer allgegenwärtigen Präsenz und Verfügbarkeit eines Conterrcoaches arbeite ich also mit meinem inneren Team. Das Persönlichkeitsmodell des „Inneren Teams“ wurde von Friedemann Schulz von Thun entwickelt. Es ist eine Metapher auf die Vielschichtigkeit unserer Persönlichkeit und spiegelt die verschiedenen Details unseres Charakters und unseres Verhaltens wider. In uns gibt es mehrere Persönlichkeitsanteile, die mal miteinander, mal gegeneinander arbeiten, um unsere Gedanken, die äußere Kommunikation und unser Handeln zu beeinflussen. Diese Anteile in uns sind sehr facettenreich, aber über einige der nachfolgenden verfügt wohl fast jeder Mensch. Der stärkste sollte der „Innere Verbündete“ sein, der Optimismus verbreitet und uns zum aktiven Tun ermutigt. Daneben wird es einen „Inneren Gegenspieler“ geben, der uns Angst einflößt, uns kontrollieren will und Pessimismus streut. Dann gibt es den „Inneren Arzt“ – eine Art Frühwarnsystem und Symptomerkenner, der uns vor ernsthaften Krankheiten schützen kann. Und vielleicht noch einen vierten – den „Lebenskünstler“, der auch die ernsten Dinge des Lebens mit Humor und einem Schuss Übermut betrachtet. Idealerweise gibt es dann noch einen „Moderator“, der versucht, die gegenläufigen Strebungen auszugleichen und nach tragbaren Kompromissen fahndet.

Dieser „Moderator“ sitzt auf einem (mentalen) Stuhl in der Mitte der Teammitglieder. Er hat die Aufgabe, diese in Streitfällen, Krisenzeiten und Stresssituationen anzuhören, Argumente zwischen ihnen abzuwägen, tiefere Erkenntnisse über sein Selbst zu erlangen – und zu einer persönlich tragbaren Entscheidung zu kommen. Nach der Anhörung tauscht der Moderator mit dem jeweiligen Teammitglied den Platz, versetzt sich in dieses hinein und betrachtet das belastende Thema aus dessen Sichtwinkel und Gefühlen heraus. Das Teammitglied sucht danach im Gegenzug auf dem Moderatorenstuhl nach Handlungsalternativen aus Moderatorensicht. Diese Art der konfrontativen Arbeit mit Gegensätzen und Emotionen deckt die Hintergründe, Interessen und Bedürfnisse der einzelnen Persönlichkeitsanteile auf. Damit ist der Moderator weitaus besser in der Lage, am Ende Widersprüche zu aufzudecken, Gemeinsamkeiten zu erkennen und klügere Entscheidungen zu treffen.
Diese Kombination aus den Modellen des „Inneren Teams“ von Schulz von Thun und des „Heißen Stuhls“, das der Gestaltpsychologe Fritz Perls im frühen 20. Jahrhundert als Therapieform entwickelt hat, kann eine sehr gute Hilfe in Gewissens-, Konflikt- und Entscheidungssituationen sein, ohne dass ein Coach oder Therapeut zugegen sein muss. Am besten funktioniert die Auseinandersetzung mit belastenden Themen, wenn man sich tatsächlich Stühle in den Raum stellt, nacheinander die einzelnen Positionen durchgeht und immer wieder die Plätze tauscht.
Versuchen Sie einmal, Ihr ganz persönliches inneres Team zu erkennen und die Persönlichkeitsanteile zu bestimmen, die einen wesentlichen Einfluss auf Ihre Gedanken, Bilder, Gefühle und Handlungen haben. Gehen Sie mit ihnen in den oben beschriebenen Austausch zu einem ambivalenten Thema und versuchen Sie eine für sich akzeptable Lösung zu finden.
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße
Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Best ager
Wolfgang Schiele
© Wolfgang Schiele 2021 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de
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