Foto: Wolfgang Schiele

Als das Jahrhunderthochwasser 1997 auch meine damalige Heimatstadt Frankfurt (Oder) [ja, es gibt in Deutschland zweimal „Franks Furten“!] erreichte, war es für die Familie keine Frage, uns selbst von den Pegelständen und Überflutungsgebieten ein unmittelbares Bild zu machen. Die Berichte im Fernsehen waren zwar ständiger Begleiter – aber es macht einen deutlichen Unterschied, ob man sich das Geschehen durch Dritte schildern lässt oder selbst ein authentisches und direktes Gefühl für die bedrohliche Situation entwickelt. (Das obige Foto stammt übrigens nicht vom Oderhochwasser, wie hoffentlich unschwer zu erkennen ist … sondern von der Küste Korsikas.)

Das erklärt wohl auch, warum anlässlich der diesjährigen Winterstürme und Sturmfluten z. B. die Hamburger auf ihren Fischmarkt strömen, um die Wasserstände in Augenschein zu nehmen. Was nur, was, zieht uns bei Katastrophen und in gefährlichen Situationen so unwiderstehlich an? Ist es nicht pervers, krankhaft oder widernatürlich, sich unnötig Gefahren auszusetzen?

Es ist die Lust am Schrecken, das Phänomen des Sensation Seeking, das in unserem Körper die Produktion von Adrenalin und Noradrenalin ankurbelt. Und gleichzeitig meinen wir, der angsteinflößenden Situation dennoch entkommen zu können. Es ist unser Erfahrungswissen, das uns suggeriert, dass wir trotz der Bedrohung noch immer die Kontrolle über die aktuelle Lage haben und es einen sicheren Ausweg gibt. Mein Beitrag zum Thema Unvernunft („Ohne Irrationalität wäre das Leben unerträglich“, siehe auch: https://wp.me/p7Pnay-3FQ) unterstreicht den Drang und die Ambivalenz des Menschen, sich nicht allein nur dem Mainstream der Vernunft und der Wissenschaft zu unterwerfen, sondern sich auch einen Kick abzuholen, nach dem man dann der Welt nonchalant verkünden kann: Ich hab´s geschafft, ich habe es überlebt, ich bin stolz auf mich – trotz aller Warnungen und Zweifel, die die „Vernünftigen“ mir davor entgegengehalten haben.

Foto: Wolfgang Schiele

Rainer Maria Rilke hat wohl in poetischer Form eine wunderbare Umschreibung für diese Art des Schreckensdrangs und der Entsetzenslust gefunden und sie in seiner Ersten Elegie, einem Gedicht in Form einer wehmütigen Klage, so ausgedrückt: „… Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören …“  

Die Grenz- und Schwellenerfahrung ist es, die in uns eine Art Lust entfacht. Es geht um den Reiz des Erhabenen, das das Schreckliche faszinierend macht und uns durch das Abstoßende in seinen Bann zieht. Erst John Dennis, ein britischer Dramatiker, und danach Edmund Burke, ein irischer Schriftsteller, haben dieses Phänomen auch als „delightful horror“ bezeichnet: Als ein zärtliches Sehnen nach Schrecken und nach Vernichtung, das noch nicht zwingend und unvermeidlich ist und das wir gerade noch abwenden können. Als eine Ästhetik des feierlichen Schreckens, des genussvollen Schauders, das wir als übergeordnet, gesetzt und bewundernswürdig erleben und es deshalb über uns ergehen lassen (wollen), weil es so faszinierend ist …

Hoffen wir, von den tatsächlichen Gefahren und Horrorszenarien dieser Welt verschont zu bleiben.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

© Wolfgang Schiele 2022 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de