Sage niemand, es gäbe keine Zeitreisen …

Foto: Wolfgang Schiele

Nach einigen Wochen der Vertiefung in wiederaufgefundene Tagebücher aus meiner Jugendzeit erwische ich mich dabei, wie ich meine Lebensphasen neu bewerte. Bemerkenswert erscheint mir, dass die Zeit der Berufsausübung für mich eine weniger wichtige und erinnerungswürdige Zeit ist als die 20 Jahre davor und die 10 Jahre danach. Die Zeit dazwischen scheint wie ausgeblendet, leerer und bedeutungsloser. Es ist, als stünde man auf einem hohen, breiten und erhabenen Erinnerungshügel und schaute in die Ferne – hinweg über die sanften Hänge und ausgebreiteten Ebenen des vormals Professionellen in Richtung Lebensstart – dorthin, wo sich Himmel und Erde treffen, als hätten sie sich etwas Wichtiges zu erzählen. Und das, was sich zwischen dem eigenen Aussichtspunkt und dem wie mit einem Lineal gezogenen Horizont am Bildrand befindet, hat kaum noch Bedeutung, findet keine wirkliche Beachtung …

War sie wirklich so nichtssagend und ereignisleer, die Zwischenzeit zwischen der ersten und dritten Lebensphase? Oder gewinnt das Ganz-Früher wegen der ausgegrabenen Tagebücher an Bedeutung, weil mit dem Lesen der Erinnerungen die frühen Ereignisse plastischer und drastischer ins Bewusstsein zurückkehren? War die Zeit der Selbstfindung einfach formender und eindrücklicher als die Phase des professionellen Engagements, der nachhaltigen Existenzsicherung oder der sozialen Verwurzelung im Leben? Ich habe heute einen kleinen Test gemacht und mir gezielt Bilder über meine beruflichen Höhepunkte gesucht: Von konzernübergreifenden Projektleitungen, die ich innehatte, von der Arbeit an der Erdgasleitung, die ich für den Westen mitbaute, von umgesetzten Messekonzepten, die ich jahrelang gegen die Kräfte eines widerspenstigen Unternehmens durchsetzen konnte. Ich versetzte mich hinein in die Hinweise und Fotozeugen der persönlichen Erfolge und Mut machenden Siege im Kampf gegen eine Allianz betrieblicher Konventionen und Bedenkenträger. Und dennoch … diese Ereignisse und Episoden wiegen in meinen Augen nicht die Erfahrungen, Erkenntnisse und Eingebungen der Adoleszenz auf.

Foto: Wolfgang Schiele

Woran das nur liegen mag? Vielleicht ist es in der Rückschau auf die berufliche Zeit die große Abhängigkeit von Fremdinteressen, die Bindung an externe Auftraggeber. Sie haben – bewusst oder unbewusst – erfolgreich verhindert, dass ich mein Herzblut und meine Seele für die Umsetzung einer Idee hergegeben habe. Die tiefe intrinsische Überzeugung, im richtigen Augenblick genau das Richtige zu machen und damit einen klaren Sinn zu verfolgen – das war das, was mir fehlte. Ich glaube auch, dass die Jahre der beruflichen „Karriere“ (was immer das auch sein mag …) sehr Ich-fern verlaufen sind; ich hatte erheblich weniger Kontakt zu mir selbst als zur allesbestimmenden Umwelt, die stets die Aufgaben und Ziele vorgab. Und womöglich habe ich auch die Zugehörigkeit zu einem Größeren und Ganzen im dienstlichen Umfeld nicht verspürt, weil mir die Zeichen und Symbole aus dieser Richtung fehlten. Das berufliche Umfeld war einfach zu rational und vermochte es nicht, mein Herz und meine Gefühle nachhaltig anzusprechen.

Wenn ich heute als Coach manchen Persönlichkeitstest für mich selbst durchspiele, stelle ich fest, dass zu meinen innersten Herzenswünschen, Lebensmotiven und Sinntreibern ganz andere gehören, als während meiner Berufslaufbahn. Die Welt der Fantasien, Erwartungen, Bekenntnisse und Lebensträume endete abrupt mit dem Tag, an dem ich zum ersten Mal eine Bürotür öffnete, um Geld zu verdienen. Darin bestärkt mich auch die Rezension, die ich für das soeben erschienene Buch eines guten Freundes und Mentors geschrieben habe. Denn es geht im Buch im Wesentlichen um persönliche Veränderung, um eine lebensentscheidende Umorientierung, die ohne Herz, nur von Verstand getrieben, nicht wirklich sinnhaft und erfüllend ist. Für alle Neugierigen hier der Titel: „Auszeitkompass – 7 Tage raus“ von Guido Ernst Hannig; die Rezension dazu ist bei amazon gelistet …

Viele Menschen leben nicht wirklich nach ihren Vorstellungen, Wünschen und Träumen. Es wird – davon bin ich fest überzeugt – sogar eine deutliche Mehrheit sein. Sie nimmt es hin, weil die Arbeit für sie die Grundbedingungen für die eigene Existenz und ein halbwegs abgesichertes Leben schafft. Und wer als etwas Älterer erst einmal drin ist in dem beruflichen Lebenstrott, der wagt selten einen Ausbruch, weil die Gefahr besteht, das Erreichte zu verlieren und mit einem Neustart nicht zurechtzukommen. Wir Deutschen möchten mit allen Mitteln unseren Besitzstand halten und scheuen wie der Teufel den risikobehafteten Neuanfang. Und entziehen uns damit ganz bewusst die Chance auf ein erfüllendes, sinnvolles, selbstbestimmtes Leben.

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

© Wolfgang Schiele 2022 | Coaching50plus | http://www.coachingfiftyplus.de