Foto: Wolfgang Schiele

Früher war alles anders – und nicht unbedingt besser. Wir hatten in der Regel Filmdosen dabei, die Rollen aus Acetat- oder Polyesterträgermaterial enthielten und auf denen sich üblicherweise lichtempfindliche Substanzen befanden. Meist nutzten wir die längeren Ausführungen mit 36 Bildern, eher weniger die mit 20 Aufnahmen. Jede Belichtung hatte ein einzigartiges und (fast) unveränderbares Fotomotiv zum Ergebnis; das allein schon machte die Aufnahme in gewisser Hinsicht wertvoll. Und da die Filme vergleichsweise teuer waren, nahm man sich als Hobbyfotograf mit einem gewissen Qualitätsanspruch auch einen Moment länger Zeit, damit das Motiv exakt belichtet, möglichst wackelfrei und horizontal ausgerichtet auf dem Negativfilm landete.

Foto: Wolfgang Schiele

Heute, viele Jahre nach der Einführung der Digitalfotografie, sind die vielfältigsten Speicherorte mit fast unendlicher Kapazität überall so gut wie kostenlos zu haben. Die Medien, in oder auf denen unsere Bilder gespeichert werden und auftauchen können, sind ungezählt. Milliarden und Abermilliarden von Aufnahmen führen zu einer nie gekannten Reizüberflutung – unser Gehirn wird regelrecht bombardiert mit einer unendlich scheinenden Menge an Farben, Motiven und Bearbeitungseffekten. Das macht die Fotografie zum Medium einer lückenlosen Aneinanderreihung von Menschheitsmomenten, aber auch zu einer archivierten Lebensgeschichte ohne wirkliche Höhepunkte für das Individuum. Ohne die bildliche Abspeicherung unseres Daseins scheint es keine Vergangenheit gegeben zu haben, könnten wir unsere eigene Existenz anzweifeln oder sogar grundsätzlich leugnen.

Foto: Wolfgang Schiele

Wenn wir ein Motiv fotografieren, dann treten wir aus dem gerade eben durchlebten Moment heraus. Wir verlassen die Realität und schieben ein Abbild von ihr in unser Lebensarchiv – auch in der Hoffnung, dass es als externes Gedächtnis sorgfältiger und fehlerfreier arbeitet, als unser biografisches Gedächtnis. Dem digital gespeicherten Bild schreiben wir eine zweifelsfreie Wahrnehmung und die ausschließliche Wahrheit zu. Einem Phänomen, das sich aus Millionen von leblosen Pixeln zusammensetzt (und das jederzeit gelöscht, zerstört oder missbraucht werden kann!) vertrauen wir in der Zukunft offenbar mehr als den Gefühlen und Sinnesempfindungen zu, die Körper, Geist und Seele im Augenblick des Auslösens bewusst und unbewusst aufgenommen haben.

Foto: Wolfgang Schiele

Je weiter die Zeit voranschreitet, die fotografische Cloud wächst und die Festplattenlaufwerke voller laufen, desto mehr wächst der innere Druck, das Digitalarchiv auszumisten, zu ordnen und zu katalogisieren. Auch wenn die Befassung mit dem fotografischen Nachlass Spaß verheißt und Erinnerungen wachrufen wird – das Unterfangen wird bald zu einer unerwarteten Mammutaufgabe. Bei der Sichtung der Fotoausbeute wollen wir möglichst genau den Ort, die Situation und den Zeitpunkt fixieren. Zu den beiden ersten Aspekten gelingt uns eine Zuordnung meist recht gut; beim Erinnern des Zeitpunktes beginnen die Unschärfen. Wenn wir beim Durchforsten und Sortieren der Bilder den mentalen Bogen zum biografischen Gedächtnis schlagen können und sich Deckungsgleichheit zwischen dem Bild und der vergangenen Wirklichkeit einstellt, dann passiert es: Das Pixelchaos initiiert in uns die Emotionen des real verstrichenen Augenblicks.

Foto: Wolfgang Schiele

Dann, wenn die Bilder in uns eine emotionale Betroffenheit auslösen und wir sie für würdig empfinden, in neuer, geordneter Form abgelegt zu sein, dann hat die Digitalität ihren Zweck erfüllt. Denn wir haben alle Möglichkeiten, sie jederzeit und fast von jedem Ort der Welt erneut anzurufen, um eine weitere Zeitreise in die Vergangenheit zu unternehmen. Das alles wäre mit einem analogen Abzug nicht machbar gewesen – denn wer läuft schon mit seiner ausgedruckten Lieblingsbildersammlung unter dem Arm durch die Welt?

Foto: Wolfgang Schiele

Nun habe ich in der Tat begonnen, meine geschätzt 25.000 Bilder Schritt für Schritt zu sichten. Schon zu lange hat mich mein liebstes Haustier, der Schweinehund, davon abgehalten. Oder muss die Zeit erst reifen, damit man das Aufbereitungswerk seiner „visuellen Vergangenheit“ in Angriff nimmt? Man schreibt ja seine Memoiren auch nicht schon mit 35 Lebensjahren. Sei es, wie es sei. Stellt sich die Frage nach der Herangehensweise und die Art der Klassifizierung. Da bleiben nicht viele Optionen: entweder man entscheidet sich für die thematische oder die chronologische Ordnung. Ich habe einen neuen Ordner angelegt und verfahre nach dem Themenprinzip. Und hoffe, noch zu Lebzeiten mit der Aufarbeitung fertig zu werden …

Foto: Wolfgang Schiele

Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße!

Ihr (Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Senioren
Wolfgang Schiele

© Wolfgang Schiele 2022 | Coaching50plus | https://www.coachingfiftyplus.de