Nach einigen Wochen der Vertiefung in wiederaufgefundene Tagebücher aus meiner Jugendzeit erwische ich mich dabei, wie ich meine Lebensphasen neu bewerte. Bemerkenswert erscheint mir, dass die Zeit der Berufsausübung für mich eine weniger wichtige und erinnerungswürdige Zeit ist als die 20 Jahre davor und die 10 Jahre danach. Die Zeit dazwischen scheint wie ausgeblendet, leerer und bedeutungsloser. Es ist, als stünde man auf einem hohen, breiten und erhabenen Erinnerungshügel und schaute in die Ferne – hinweg über die sanften Hänge und ausgebreiteten Ebenen des vormals Professionellen in Richtung Lebensstart – dorthin, wo sich Himmel und Erde treffen, als hätten sie sich etwas Wichtiges zu erzählen. Und das, was sich zwischen dem eigenen Aussichtspunkt und dem wie mit einem Lineal gezogenen Horizont am Bildrand befindet, hat kaum noch Bedeutung, findet keine wirkliche Beachtung …
Haben Sie schon einmal über Ihre Sinnentwicklung nachgedacht? Oder anders gefragt: Wie und in welcher Lebensphase hat sich bei oder in Ihnen ein Lebenssinn entwickelt, und wann ist er womöglich auch wieder verlorengegangen? Denn eines ist klar: Wir werden von der Natur weder mit einem Sinn-Such-Auftrag ausgestattet noch mit einem Sinn-Haft-Anhänger ins Leben entlassen. Wenn wir sinnvoll – also „voll mit Sinn“ – leben wollen, müssen wir uns schon selbst einige Gedanken darüber machen.
Mit der Aufklärung kam die moderne Wissenschaft und sagte einer Welt der Religion und der Spiritualität den Kampf an. Sie wollte ein für alle Mal aufräumen mit esoterischen, theologischen, irrationalen und spirituellen Welterklärungen. Nach den vermeintlich dunklen Zeiten des Mittelalters sorgte die Aufklärung für eine wissenschaftliche Betrachtung der Welt. Sie legte sich ein Handwerkszeug zu, das die den Menschen umgebenden Dinge der Welt beobachtete und registrierte, analysierte und synthetisierte, hypothesierte und methodizierte, kausalisierte, korrelierte, ordnete – und vor allem rationalisierte: im Sinne von wohlbegründet, nachvollziehbar und vernünftig. Man kann auch sagen, die moderne Wissenschaft machte dem Menschen die Welt verständlich und nachvollziehbar – ohne sie durch eine allesbeherrschende Gotteskraft zu begründen. Sie nahm der Welt allerdings auch einen Teil ihrer Magie und ihres Zaubers. Und sie stahl vielen Menschen den Sinn, den sie bisher ausschließlich mit einer transzendenten Macht in Verbindung gebracht hatten. Mit zunehmenden Erkundungen, Erfahrungen und Erkenntnissen setzte die Wissenschaft die Vernunft an die erste Stelle menschlichen Strebens und begann mehr und mehr die „Unvernunft“ der Vergangenheit durch Erklärungsmodelle außerhalb eines religiösen oder spirituellen Geistesrahmens zu ersetzen.
Für den Weiterbestand der Menschheit bedarf es nicht wirklich einer Sinnfindung – sie wird als Spezies auch überleben, wenn deren Individuen keinen Lebenszweck verfolgen, keine Mission in sich spüren oder sich keinem abstrakten Großen und Ganzen unterwerfen. Das Universum hat für uns nicht wirklich Verwendung. Es gibt uns keine Sinnbestimmung vor, drängt uns nicht zur Sinnsuche. Die Welt verhält sich uns gegenüber völlig gleichgültig. Außerhalb unseres Bewusstseins macht sie keinen Sinn. Unser Treiben ist für die Natur ohne existenziellen Informations- oder Entwicklungswert – sie, die Natur, wird es in irgendeiner bedeutungsfreien und ergebnisoffenen Form immer geben, ohne auf eine spezielle Lebensform angewiesen zu sein oder deren Einfluss als bedrohlich betrachten zu müssen.
Ich musste schon ein wenig zurückblättern, um zu schauen, wann ich hier meinen letzten, selbstverfassten Beitrag gepostet habe. Er datiert auf den Mai 2021. Seitdem herrscht – mit Ausnahme eines Podcastbeitrages von Bertram Kasper (zu finden unter https://gelassen-aelter-werden.de/ideen-fuer-den-ruhestand-wolfgang-schiele/) – Funkstille.
Doch langsam möchte ich den Faden wieder aufnehmen, weil sich nach 10 Monaten intensiver Arbeit an meinem zweiten Buch wieder gewisse Freiräume auftun. Und ich wieder mehr Lust bekomme, kurze Beiträge zu schreiben, die nicht mehr die durchgängige Disziplin und Ausdauer erfordern, wie ein 300 seitiges Buch zu einem eng umrissenen Themenkreis.
Am 10. November habe ich das Manuskript an den Springer Verlag abgeschickt. Es war ein entspannter und beglückender Moment, als ich die drei gezippten Ordner auf die Reise durch den Äther schickte; eine gewisse Befreiung auch von den Strapazen einer Zeit konzentrierter Fokussierung auf 30 Coachingmodelle, die ich in dem Buch mit den kleinen und großen Misslichkeiten, Stressmomenten und Krisensituationen des Alterns im Allgemeinen und des Ruhestands im Speziellen in Beziehung gebracht habe.
Ein Buch, das den Laien mit modellhaften Einblicken in seine Psyche versorgt, denn weder in der Schule oder während der Ausbildung und erst recht nicht im Berufsleben wurden uns Hilfsmittel an die Hand gegeben, die uns befähigen würden, aus eigener Kraft – präventiv oder akut – den einen oder anderen seelischen Notstand zu lindern oder gar zu beheben.
Ein DIY-Angebot für alle, die im reifen Erwachsenenalter besser mit Problemen, Stress und Krisen umgehen möchten. Eine Anleitung, wie man mit therapeutischen Methoden bzw. Interventionen und Formaten aus der Coachingwelt positiv auf seelisch belastende Situationen des fortschreitenden Alterns einwirken kann. Wobei der Fokus auf die Ansätze der Positiven Psychologie und auf die wesentlichsten Säulen der Resilienz gerichtet ist.
Ein Selbstmanagementbuch mit einer Vielzahl von Beipielen und Übungen, die auch ohne die Anwesenheit eines Coaches im Selbstversuch, allein im stillen Kämmerlein oder mit dem Partner, ausprobiert werden können – und wenn es passt, auch gern zu einem Teil des Ruhestandsalltags werden können.
Die einzelnen Modelle werden dem Leser in kurzer, einfacher und verständlicher Form erläutert und jeweils mit einem passenden Alterskontext verbunden. 41 farbige Abbildungen lockern das Buch auf und visualisieren die Wirkmechanismen der Modelle. Jedem der 30 Kapitel aus den Lebensbereichen Gesundheit, Kommunikation, Biografiearbeit, Stressbewältigung und Lebenssinn ist mindestens ein Übungsvorschlag zugeordnet. Insgesamt 18 Arbeitsblätter können über Verweise heruntergeladen werden und dienen als didaktische Lernmittel.
„Selbstmanagement im Ruhestand – Coachingmodelle für mehr Resilienz und Gelassenheit im Alter“ – so der Titel des Buches, für den es bereits das fertige Cover gibt. Und hierüber freue ich mich ganz besonders, denn der Springer Verlag hat einen Bildvorschlag von mir angenommen. Auf dem Titel ist ein Sonnenuntergang in Bad Saarow am Scharmützelsee zu sehen – meine Heimat seit 15 Jahren! Der Aufnahmeort liegt keine 500 m von meinem Haus entfernt … Und auch, wenn es nur eine kleine Spur ist, die man damit in seinem Werk hinterlässt – es ist zumindest für mich ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur eigenen Sinnerfüllung.
Foto: Wolfgang Schiele
Ich freue mich über die Veröffentlichung – der Termin steht noch nicht fest. Doch ich denke, im frühen Frühjahr wird das Buch bei Springer incl. Ebook erscheinen. Bleiben Sie bis dahin gespannt!
Vielen Dank für Ihr Interesse und beste Grüße
Ihr Wolfgang Schiele
(Vor-)Ruhestandscoach und Resilienzlotse für Best ager Wolfgang Schiele
Es gibt nur zwei wirklich wichtige Termine im Leben, die wir nicht verpassen sollten. Einer davon ist uns bekannt – und wir waren pünktlich zur Stelle – es ist der Tag unserer Geburt. Den anderen können wir eigentlich gar nicht verpassen, doch wir kennen ihn nicht: Es ist der Tag des Abschieds.
Irvin Yalom, der vielleicht dienstälteste Psychotherapeut der Welt, hat sich intensiv damit befasst, was zwischen den beiden Terminen lebensprägend ist. Es sind für ihn die sogenannten „letzten Dinge“, die maßgeblich unsere physische und psychische Gesundheit beinflussen, existenzielle Krisen auslösen können und unsere seelische Verfassung ausmachen. Die Spannungsfelder, in denen sich sein Lebenswerk „Existenzielle Psychotherapie“ bewegt, schwingen zwischen den Polen von „Freiheit und Verantwortung“, „Isolation und Verbundenheit“, „Leben und Tod“ sowie „Sinnlosigkeit und Sinnsuche“ hin und her. Dieser Beitrag befasst sich mit den letzten beiden Termini.
Yalom geht davon aus, dass uns das Leben keinen Sinn mitgegeben hat. Unser Daseinszweck und unsere Bestimmung auf Erden bleiben erst einmal unergründlich. Außerhalb unseres eigenen Selbst wissen wir nicht einmal, ob eine objektive Welt um uns herum wirklich existiert oder ob wir sie uns nur konstruieren. Wenn wir uns nicht sicher sind, können wir uns die Frage stellen: „Sollten plötzlich alle Menschen sterben – gäbe es dann diese Welt noch?“ (hier bitte einen Moment innehalten und abwägen …) Uns gegenüber verhält sich die Welt völlig sinnfrei und gleichgültig. Außerhalb unseres Selbst ergibt die Welt nicht wirklich Sinn. Wenn uns aber die Welt keinen Sinn mitgegeben hat, dann kann er immer nur aus unserem eigenen Inneren heraus geschaffen, kreiert werden. Und dazu bedarf es des Mutes, ernsthafte Fragen an das eigene Leben und sein Umfeld zu stellen. Diese Fragen beginnen regelmäßig mit: „Warum sind wir da und wofür leben wir?“
Die bekanntesten Vertreter, die sich als Existenzialisten einen Namen gemacht haben, sind Jean-Paul Sartre und Albert Camus. Letzterer erkennt weder im Leben an sich einen Sinn, noch im Tod. Wobei der Tod der krönende Abschluss eines absurden, widersinnigen Lebens ist. Der Mensch hat nach Camus nur die Wahl, die Absurdität seines Seins anzuerkennen und anzunehmen, wenn er sich nicht durch Suizid aus dieser Absurdiät hinwegschleichen will. Damit bleibt der Mensch zwar Selbstgestalter seiner Welt, aber ohne in seinem Handeln einen Sinn zu sehen.
Viktor E. Frankl als Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse meint hingegen, dass der Mensch den Sinn im Leben braucht, um glücklich zu werden. Da es bekanntermaßen keine Universalrezepte für die Sinnfindung gibt, unterstützt er uns mit drei Wegweisern, seinen drei Hauptstraßen zum Sinn. Die erste Magistrale führt uns zu den Erlebniswerten, zu allem, was wir gemeinhin als das Gute, das Schöne und das Wahre bezeichnen. Die zweite ist eine Trasse entlang der schöpferischen Werte: den Dingen, Taten und Werken, die wir für uns, für andere und die Gesellschaft erschaffen haben. Und die dritte Schnellstraße führt zu unseren Haltungswerten, die uns z. B. persönliches Glück spüren lassen oder das Leiden in der Welt erträglich machen.
John Strelecky, der Autor des Weltbestsellers „Das Café am Rande der Welt“, lässt seinen Helden in einem Lokal stranden, in dem ihm drei Fragen gestellt werden, die er sich bisher noch nie gestellt hatte und die ihm bis dahin auch noch nie gestellt wurden. Entsprechend lange dauert seine Auseinandersetzung mit der Speisekarte, in der diese Fragen stehen. Die erste befasst sich mit seinen Werten: „Führst du ein erfülltes Leben?“ Die zweite fragt nach seiner Identität als Mensch: „Hast du Angst vor dem Tod?“ Und die letzte und wohl wichtigste fordert eine Antwort auf die Sinnfrage ein: „Warum bist du hier?“ – Die Antworten findet man meiner Meinung nach nur auf einer Reise zu sich selbst …
Nur wenn für mich selbst im Rückblick auf mein Leben eine individuelle Bedeutsamkeit auftaucht, wenn ich erkenne, mein früheres Handeln hatte (m)ein erstrebenswertes Ziel verfolgt und ich habe es versucht zu erreichen oder gar vollendet, dann entsteht Sinnesstolz. Der Stolz darüber, etwas geschaffen zu haben, was nicht nur schnödes Ergebnis meines Denkens und Tuns ist, sondern für mich und für andere eine Bedeutung darüber hinaus hat, verleiht meiner Handlung einen Sinn. Und genauso sieht es aus, wenn mein Blick in die Zukunft gerichtet ist: Ein Plan, ein Vorhaben, das meinen Wertevorstellungen entspricht und von dem ich überzeugt bin, macht ferneren Sinn aus. Und motiviert mich vom Start bis zur Vollendung.
Es bedarf wohl einer individuellen, idealisierten Werte- und Zielvorstellung, die man verwirklichen muss, um Sinnhaftigkeit zu spüren. Ohne eigene Vorgaben und Ideale durchs Leben zu gehen, geschweige denn daran zu denken, ins zielorientierte Handeln zu kommen, ergibt keinen wirklichen Sinn. Dagegen kann es schon ausreichen, wenn wir alltäglichen Verrichtungen einen höheren Zweck zuschreiben, als die gemeine Vernunft ihn einzuordnen vermag. Eine übergeordnete Bedeutung auf einer höheren Abstraktionsebene zu erkennen führt uns nämlich zu einem qualitativ neuen Verständnis des kleinen wie auch eines großen Weltzusammenhanges.
Auch wenn der Psychotherapeut Yalom die wesentlichen Ursachen für psychische Störungen aus seinen „letzten Dingen“ ableitete und bedeutende therapeutische Erfolge feiern konnte, so findet auch er nicht d i e Sinngeber an sich. Auch er ist sich der Schwierigkeit bewusst, sich selbst immer wieder ganz individuelle Sinnfragen stellen zu müssen – und vielleicht am Ende sogar eine absurde:
„Erfinde einen Sinn, der stabil genug ist, um als Fundament des Lebens zu dienen und vollziehe dann das knifflige Manöver, die eigene Urheberschaft an diesem Sinn zu leugnen.“
Muss alles im Leben immer Sinn machen oder haben, damit wir glücklich sind oder werden? Oder darf es auch ein wenig weniger sein mit dem Sinnhaften? … Von der Ambivalenz des „Sinnlos-Glücklichseins“ …
In der Sinnforschung – u. a. an der Uni Innsbruck durch Prof. Tatjana Schnell – wird seit längerer Zeit akademisch darüber nachgedacht, welche Lebensbereiche, Motivatoren und Kompetenzen als Sinnquellen für uns Menschen bedeutsam sein könnten. Vor gut zehn Jahren hatte man die wichtigsten zusammengetragen: Insgesamt 26 „Lebensbedeutungen“, die je nach Intensität und Präsenz sinnstiftend oder sinnneutral sind. Oder anders gesagt: „Was gibt meinem Leben einen Sinn?“ oder: „Was macht mich trotzdem glücklich?“ Ich will versuchen, die einzelnen Bedeutungen auf die reife, vor dem (oder auch schon im) Ruhestand stehende Generation der Babyboomer zu adaptieren …
In der Sinnforschung – u. a. an der Uni Innsbruck durch Prof. Tatjana Schnell – wird seit längerer Zeit akademisch darüber nachgedacht, welche Lebensbereiche, Motivatoren und Kompetenzen als Sinnquellen für uns Menschen bedeutsam sein könnten. Vor gut zehn Jahren hatte man die wichtigsten zusammengetragen: Insgesamt 26 „Lebensbedeutungen“, die je nach Intensität und Präsenz sinnstiftend oder sinnneutral sind. Anders gesagt: „Was gibt meinem Leben einen Sinn?“ oder: „Was macht mich trotzdem glücklich?“ Ich will versuchen, die einzelnen Bedeutungen auf die reife, vor dem (oder auch schon im) Ruhestand stehende Generation der Babyboomer zu adaptieren …
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